Inhalt Vorwort 005 Die notwendigste Lebensfrage - Was muß ich tun? 007 In der Schwebe 016 Komm zum Kreuz! 025 Buße, ein himmlisches Geschenk 050 Der Gnadenstrom 071 Ohne Fühlen will ich trauen! 089 Ein Überwinder von innen heraus! 097 Das Geheimnis eines siegreichen Lebens 103 Der Weg dem Lamme nach 124 Kleine Lichter auf dem Weg der Nachfolge 175 Kreuzesgemeinschaft 175 Verborgenes Leben 177 Der Glaubenskampf 179 #icht in Anfechtung fallen 181 Gebetsleben 183 Innere Erfahrungen 185 Überfließendes Leben 187 Unheiligkeiten andrer 189 Der Ausweg 191 Gesegnetes Bibellesen 193 Das Examen 195 Die Ruhe im Kreuz 197 Grundsatz des Kreuzes 199 Ein Segen sein und Segen empfangen 201 3 Praktische Heiligung 203 Christus – auch der Letzte 205 Sabbatruhe 207 Schritthalten mit Gott 209 Umgestaltung und Hoffnung 211 Die zuvorkommende Gnade 213 Das „Ja“ des Geistes 215 Vergebung und Reinigung 217 Führungen 219 Wer überwindet! 221 Verborgene Opfer 223 Die wiederherstellende Gnade Gottes 225 Anfechtungen 227 Reinigung und Dienst 229 Hingabe und Segen 231 Unsre Zusammengehörigkeit mit Christus 232 Der Geist der Selbstentsagung 234 Bleibt in Meiner Liebe! 236 Lebst du in der Gegenwart Gottes? 248 Eine wunderbare Begegnung 256 Alttestamentliche Vorbilder der Braut des Lammes 266 Anleitung zum segensreichen Bibellesen 301 Heilsgewißheit 323 Aus dem Nachlaß von Georg Steinberger 330 Steinbergers Leben und Wirken 364 4 Vorwort Georg Steinberger (1865-1904) war Ende des 19. Jahrhunderts ein bekannter und begnadeter Schriftsteller und Seelsorger. Nach seiner Ausbildung auf St. Chrischona, Schweiz, war er zunächst als Prediger und Evangelist tätig und folgte im Jahre 1899 einem Ruf in das schweizer Erholungsheim Rämismühle bei Zürich. Immer wieder war er nicht nur in der Schweiz zu Evangelisationen und Bibelstunden unterwegs, sondern auch in Deutschland. Seine Kontakte zur Deutschen Zeltmission führten zur Gründung der Schweizer Zeltmission. In seinem kurzen Leben wurde er vielen Menschen durch seinen Dienst und seine Schriften zum Segen. Das vorliegende Buch ist eine Zusammenstellung seiner bekanntesten Bücher wie „Der Weg dem Lamme nach“, „Kleine Lichter auf dem Weg der Nachfolge“ sowie Schriften, die es wert sind, gelesen zu werden. Eine kurze Biografie über sein Leben zeugt, wie auch seine geistliche Hinterlassenschaft, von der Prägung der Heiligungsbewegung und von einem Lebensstil, dem er seit seiner Bekehrung treu geblieben ist: Glauben, Vertrauen, Gehorsam, Selbstverleugnung und Leidensbereitschaft. Dieses Zeugnis eines Lebens, in dem Christus der Mittelpunkt war, ist auch in unserer heutigen Zeit glaubensstärkend und ermutigend. Steinbergers Schriften werden noch heute viel gelesen. Sie sind dem Suchenden ein Wegweiser und dem Erretteten eine Stärkung. Gar manches Traktat anderer Verfasser ist bereits in Vergessenheit geraten, warum nicht auch Steinbergers Schriften? Sie haben dem Menschen von heute noch etwas zu sagen. Georg Walter 

Die notwendigste Lebensfrage Was muß ich tun, um errettet zu werden? Apg. 16,30 Diese Frage ist eine Lebensfrage, nicht eine Sterbensfrage, eine Frage für die Gegenwart, nicht fürs Alter. Sie ist auch die wichtigste Frage. Viele wichtige Fragen gibt es, aber die wichtigste von allen bleibt die: „Wie werde ich selig“ oder auch wörtlich – „gerettet“? Ein Mann, der in eine Grube gefallen ist, mag viele wichtige Fragen im Blick auf Frau und Kind, auf Geschäft und Zukunft haben; aber sie alle werden zurücktreten vor der Frage: „Wie kann ich gerettet werden?“ Die Schrift sagt uns in Psalm 40, daß wir alle in eine grausame Grube des Verderbens und in den Schlamm der Sünde gefallen seien. Wie können wir gerettet werden? O welch eine wichtige Frage! Gibt es eine Frage, die so hoch, so weit, so alles überragend ist als gerade diese? Was wird es dir oder mir bald ausmachen, ob wir in dieser Welt gingen oder fuhren, ob man uns grüßte oder mißhandelte, ob man uns achtete oder hinausstieß, ob wir reich waren oder arm? Aber darauf wird es ankommen, ob unsere Seele gerettet ist oder nicht, ob unsere Übertretungen vergeben sind oder nicht, ob unsere Sünden bedeckt sind oder nicht, ob wir Jesus, den Bürgen und Mittler, haben, der vor Gott die Sache unserer Seele führt, oder ob Er uns sagen wird: „Ich kenne dich nicht!“ Die Seele verloren, alles verloren! Laß uns recht einfach zu Werke gehen mit dieser ungeheuer wichtigen Sache und zuerst fragen: Was muß ich nicht tun, um selig zu werden? 1. Man muß seine Sünden nicht zudecken wollen durch Vergessen. Wir haben alle eine Vergangenheit. Vieles ist in unserm Leben geschehen! O, könnte ich es gutmachen!Aber da steht das schwarze Gespenst, das uns begleitet auf allen unsern Gängen, das mit uns ißt und trinkt, das in der Stille der Nacht an unser Lager tritt und den Schlaf von unsern Augenlidern verscheucht. Bemühe dich, es zu vergessen, und siehe, ob du es fertig bringst. Themistokles, ein griechisches Staatsoberhaupt, soll gesagt haben: „Die größte Kunst auf Erden ist 7 das Vergessen.“ Aber ich glaube, daß diese große Kunst auf Erden nur wenige fertigbringen und in der Ewigkeit nicht ein einziger. Da wacht bei allen das schlafende Gewissen auf, und sie müssen erfahren, daß dasselbe alles ganz gewiß weiß. Und das wird der Wurm sein, der nicht stirbt, und das Feuer, das nicht verlöscht. Der reiche Mann nahm nicht seinen Reichtum und sein Wohlleben mit in die Hölle; aber sein Gewissen nahm er mit. Das Gewissen ist ein Buch, das jede böse Tat, jedes böse Wort, jeden bösen Gedanken aufzeichnet. Und in Offenbarung 20 wird uns gesagt, daß alle die Bücher am Tage des Gerichts aufgetan werden vor Gott, vor Engeln und vor Menschen. Und wehe dir, wenn da die Handschrift bei dir nicht ausgetilgt ist! Viele meinen, weil sie ihre Sünden nicht erkennen, hätten sie keine. Aber dein Gewissen wird auf einmal aufwachen und lebendig werden, wie z. B. bei einem Ertrinkenden, dem in der Todesstunde in wenigen Sekunden sein ganzes Leben vor die Seele tritt. Die Sünden deiner Vergangenheit, die Menschen, die du belogen, betrogen und hintergangen hast, werden dir vor die Augen treten und dich nie mehr verlassen. Ich las von einem Mann, der im Zorn einen andern ermordet und seinen Leichnam in die Erde verscharrt hatte. Aber es schien ihm, als liege der Ermordete beständig in seinem Hause; das Bild des Toten wollte ihm nicht aus den Augen kommen. Der Mann wurde vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt, und während er im Gefängnis saß, hörte er beständig die Stimme des Ermordeten, und es war ihm eine Wohltat, hingerichtet zu werden. Er wollte lieber sterben als leben. Das Gewissen fing an, sein furchtbares Werk der Verdammnis zu tun, und wird es tun für alle Ewigkeit. Die Brüder Josephs wollten auch ihre Sünden vergessen, und es gelang ihnen auch wohl zwanzig Jahre lang. Aber da zogen sie eines Tages nach Ägypten an den königlichen Hof, und siehe, da trat die Sünde, die sie an ihrem Bruder begangen hatten, plötzlich wieder vor ihre Seele, und Juda ruft in großer Seelenangst: „Das haben wir an unserm Bruder verschuldet!“ Viele Leute wollen Gras über ihre Sünden wachsen lassen, und es gelingt auch scheinbar, aber da wird ein Wort geredet, tritt irgendein Vorfall ein, und siehe, die Schuld, die alte Schuld, die alte Klage: „Ich habe mich verschuldet!“ ist wieder da. Einmal traf ich in der Bahn mit einer Lehrerin zusammen, die mir von ihren Lebensidealen erzählte. Ich sagte ihr: „Ihre Ideale sind sehr 8 Georg Steinberger schön und anerkennenswert; aber was machen Sie mit Ihren Sünden?“ „Nun, die werde ich eben vergessen müssen“, erwiderte sie. „Können Sie das?“ fuhr ich fort. Ihre Antwort auf diese Frage war eine Träne in ihren Augen. O wie viele bemühen sich, ihre Sünden zu vergessen! Aber das ist alles nutzlose Anstrengung. Es gibt etwas weit Besseres als Vergessen, es gibt eine Vergebung. 2. Man muß seine Sünden nicht mehr zudecken wollen durch Entschuldigungen. Ich glaube, die größte Arbeit hat Gott mit dem Menschen, bis Er einen Sünder aus ihm gemacht hat. Sünder sind seltene Leute. Darum sagt auch Jesus: „Ich bin gekommen, die Sünder zu suchen. „Muß man die suchen? Ja, die muß man suchen. Jesus kam in eine Stadt, und da war eine Sünderin. Er ging durch Jericho, und viel Volk folgte Ihm nach; aber da war nur ein Sünder, dem Heil widerfahren konnte. Unter diesen großen Hut: „Wir sind allzumal Sünder“, stellen sich die Leute noch gern; aber sobald man persönlich wird und sagt: „Du bist der Mann!“ da hat alle Willigkeit ein Ende. Nun, solange wir keine Sünder sind, können wir nicht selig werden; denn nur Sünder macht der Heiland selig. Es fragte einmal eine Dame, ob sie denn erst recht sündigen müsse, um eine Sünderin zu werden. Ach, sie wußte nicht, daß es auch von dem besten unter den Menschenkindern heißt: „Von der Fußsohle bis zum Scheitel ist nichts Gesundes an ihm, sondern eitel Striemen und Eiterbeulen.“ Der König Saul gab zu, daß er gesündigt habe; aber sofort entschuldigte er seine Sünde. Solange wir unsere Sünden entschuldigen, kann uns nicht geholfen werden. Bei unserm Gott ist viel Vergebung, aber nur da, wo man seine Sünde erkennt, anerkennt und bekennt und, wo man an Menschen gesündigt hat, auch vor Menschen bekennt. Du hast gelogen; aber du sagst: „Ich war gezwungen. Ich konnte doch nicht die Wahrheit sagen. Wie wäre das herausgekommen? Und was hätte das für Folgen gehabt?“ Allerdings hätte dich die Wahrheit in schwierige Dinge hineingebracht. Aber weißt du, wo dich die Lüge hinbringt? In den Feuerpfuhl! Denn „aller Lügner Teil wird sein in dem Pfuhl, der mit Feuer und Schwefel brennt.“ Unser Gott entschuldigt keine Notlüge und Die notwendigste Lebensfrage - Was muss ich tun? 9 keine Geschäftslüge. Nicht bei Gott wird dein Teil sein, sondern bei dem Vater der Lüge. Du hast gestohlen, und du sagst: „Ach, der ist noch reich genug, der spürt es nicht.“ Ja, der reiche Mann wird es nicht spüren; aber du wirst es in der Ewigkeit spüren als ein Brandmal in deinem Gewissen. Andere wollen ihre Diebstähle damit entschuldigen, daß sie den Betrag in die Missionskasse oder in die Opferbüchse werfen. Aber das sind „räuberische Brandopfer“ (Jes. 61,8), die Gott, der das Recht liebt, haßt. Diese Dinge lassen viele nicht nur hier, sondern auch in der Ewigkeit nicht zur Ruhe kommen. Der göttliche Weg ist hier: „Wer seine Sünden bekennt und läßt, dem wird es gelingen.“ Du hast mit andern gesündigt, und du sagst: „Ich wurde verführt; ich wurde mitgezogen. Meine Umgebung, meine Verhältnisse waren derart, daß ich nicht anders konnte. Überhaupt kann es nicht so schlimm sein; denn was ich tue, tut fast jeder Mensch.“ Lieber Freund, tröstet es dich, verbessert es deine Lage, wenn du auf sinkendem Schiff dem sichern Tode entgegensehen mußt und dir sagen kannst: Nun, es sind ja noch dreihundert andere mit mir in derselben Lage? Sieh, wie eitel deine Entschuldigungen sind! Höre auf damit; denn solange du dich entschuldigst, kann dir nicht vergeben werden. Es heißt: „So wir unsere Sünden bekennen, so ist Er treu und gerecht, daß Er uns die Sünden vergibt.“ Aber furchtbarer als alles ist, wenn man seine Sünden damit entschuldigen will, daß man alle Festtage das heilige Abendmahl genießt und nach wie vor in seinen Sünden weiterlebt. In den vorhin erwähnten Fällen hast du dich an Menschen versündigt, hier aber an dem heiligen Leib und Blut des Herrn. So oft du das Abendmahl genommen hast ohne Erneuerung des Herzens, ohne dein Leben Dem hinzugeben, der Sein Blut und Leben für dich gelassen, hast du es zum Gericht genommen. Setze dich einmal hin und zähle nach, wie oft du seit deiner Konfirmation am Abendmahl teilgenommen hast, ohne dein Leben wirklich zu ändern. Wisse es, du hast es jedes Mal dir zum Gericht empfangen; denn „wer unwürdig ißt und trinkt, der ißt und trinkt sich selbst Gericht, indem er den Leib nicht unterscheidet.“ (1.Kor. 11,29). Du wolltest mit diesen heiligen Dingen deine Sünden entschuldigen und hast dadurch nur Schuld auf Schuld gehäuft. 10 Georg Steinberger 3. Man darf Buße und Bekehrung nicht aufschieben bis zur letzten Stunde. Es sagt jemand: „Ich glaube bestimmt, daß aus hundert Bekehrungen auf dem Sterbebett neunundneunzig nichts wert sind.“ Von wie vielen unter allen Personen, deren Sterben in der Bibel erwähnt wird, lesen wir, daß sie sich in der letzten Stunde bekehrten? Von fünfzig? Nein! Vierzig? Nein! Dreißig? Nein! Zwanzig? Nein! Zehn? Nein! von einem Menschen, nur von einem, um zu zeigen, daß es eine Möglichkeit der Bekehrung in der letzten Stunde gibt, daß es aber sehr unwahrscheinlich, furchtbar unwahrscheinlich ist! Wenn du es jemals gesehen hast, wie ein Mensch versucht, sich in der letzten Stunde zu bekehren, so hast du etwas überaus Trauriges gesehen. Von dem Augenblick an, in welchem der Mensch geboren wird, bis zu dem letzten Augenblick gibt es dazu keinen ungünstigeren Augenblick als die Todesstunde. Da steht der Arzt mit seinen Mitteln, da steht der Rechtsanwalt mit seinem halb geschriebenen Testament, da ist die ganze bestürzte Familie, die ganze Vergangenheit steigt vor uns auf. O, der Mensch ist ein Narr, der seine Bekehrung bis zur Todesstunde aufschiebt! Nicht einmal bis zum nächsten Tag dürfen wir unsere Bekehrung aufschieben. Nur das „Heute“ gehört uns, nicht das „Morgen.“ Nicht einmal bis zur nächsten Stunde dürfen wir aufschieben. Ein treues Kind Gottes erzählte mir vor nicht langer Zeit: In unserm Dorfe wohnte auf einem Gut eine reiche Dame, der ich von Zeit zu Zeit christliche Schriften brachte, sie einlud in unsere Bibelstunden und ihr auch hie und da sagte, daß sie sich bekehren müsse. Eines Sonntagnachmittags trieb es mich innerlich, die Dame wieder zu besuchen und sie noch einmal ernstlich einzuladen. Als ich den Hof betrat, stand eine feine Karosse da mit zwei mutigen Pferden, und als ich die Treppe hinaufging, begegnete mir die Dame, bereit zum Ausfahren. Ich lud sie wieder freundlich ein und sagte ihr unter anderem, daß sie doch auch etwas für ihre unsterbliche Seele tun müsse, wenn sie in den Himmel kommen wolle. „Ach was Himmel!“ sagte sie, und sich wendend und auf ihre Karosse deutend, fügte sie hinzu: „Sehen Sie, das ist mein Himmel!“ Mit diesen Worten ließ sie mich stehen, ging die Treppe hinunter, stieg in den Wagen und fuhr fort. Nach einigen Stunden lief die furchtbar traurige Nachricht durch unser Dorf: Die notwendigste Lebensfrage - Was muss ich tun? 11 Die Gutsbesitzerin Frau H. ist tot! Sie wurde von den scheuen Pferden aus dem Wagen geworfen und an einen Stein geschleudert und wurde dort tot aufgehoben. O teurer Leser, schicke niemand weg und verachte niemand, der sich um deine unsterbliche Seele bemüht. Es ist vielleicht ein Bote Gottes und vielleicht der letzte. Es hat einer gesagt: Der Teufel fängt die meisten Seelen durch die „lange Bank“, d.h. durch das Aufschieben. Die Bibel sagt: „Heute, wie gesagt ist, heute, so ihr Seine Stimme hören werdet, so verhärtet eure Herzen nicht.“ Die Bibel sagt: „Jetzt ist der Tag der Annahme, jetzt ist der Tag des Heils.“ Der Teufel sagt: „Morgen ist es auch noch Zeit; jetzt lege dieses Büchlein beiseite; schlage dir jetzt die beunruhigenden Gedanken aus dem Kopf, denke morgen darüber nach!“ Wem wirst du glauben, wem wirst du folgen? Laß mich noch kurz sagen, was man tun muß, um selig zu werden. Nun, die Antwort ist sehr einfach. Aber gerade, weil sie so einfach ist, scheint es dem Menschen schwer zu sein, sie zu verstehen. Paulus antwortete dem Kerkermeister auf diese Frage: Glaube an den Herrn Jesus Christus! Ganz einfach: Glaube! Wenn man in unserer Christenheit fragt, was man tun müsse, um selig zu werden, erhält man fast durchweg die Antwort: „Man muß beten.“ Sagte Paulus dem Kerkermeister, er müsse ernstlich beten und weinen und trauern und mit lauter Stimme zu Gott rufen? Nein! Dies alles mag in Begleitung der Bekehrung und des Glaubens sein; aber das ist nicht glauben und nicht das, wodurch wir gerettet werden. Viele Christen wundern sich, daß dieser Heide so schnell glauben konnte. Ich denke darum, weil er in Sündennot war. Überhaupt ist in der Bibel der kurze Befehl: „Glaube!“ nur an zerbrochene und zerknirschte Herzen gerichtet. Wer nicht zerbrochen ist, kann mit dem Glauben einfach nichts anfangen. Aber laßt die Leute einmal in Sündennot kommen, dann hören sie bald auf zu sagen, glauben sei zu einfach und zu leicht. Dann braucht man ihnen auch nicht mehr zu erklären, was glauben ist, ebenso wenig wie man einem Ertrinkenden sagen muß, wie er das Rettungsseil fassen muß. Ich predigte einmal an einem Ort, und da wurde auch eine Frau erweckt. Sie kam zu mir, und ich betete mit ihr und ermahnte sie zu 12 Georg Steinberger glauben. Am nächsten Abend brachte man die Frau wieder mit der Bitte, ich sollte mit ihr beten. Ich sagte: „Nein, das tue ich nicht, die Frau soll glauben.“ Aber ich betete für sie. Sie brachte auch ihr Kind mit in jene Versammlung, und auch das Kind wurde erweckt und sagte am nächsten Morgen zur Mutter: „Aber Mutter, wenn wir verloren gingen! Geht das Feuer in der Hölle nie aus? Muß man da immer brennen und kann nie verbrennen?“ Die Mutter mußte dem Kind sagen: „Nein, das Feuer geht nie aus; man muß ewiglich brennen.“ Das Kind fuhr fort: „Ja, Mutter, willst du dich nicht bekehren?“ „Gewiß“, sagte die Mutter. Nach einer Stunde fragte das Kind wieder: „Mutter, bist du jetzt bekehrt?“ „Nein“, sagte die Mutter, „wenn ich nur wüßte, wie ich es anfangen sollte!“ Eine Stunde später fragte das Kind wieder: „Mutter, bist du jetzt bekehrt?“ „Ach nein, Kind“, seufzte die Mutter. „Aber Mutter, wenn du in die Hölle kämst und müßtest brennen und könntest doch nicht verbrennen!“ sagte das Kind. Da brach die Mutter zusammen und schrie laut: „Heiland, was muß ich tun? Ich nehme meine Zuflucht zu Dir, Du bist für die Gottlosen gestorben und auch für mich.“ Und siehe, da zog Friede und Ruhe in ihre Seele ein. Sie wurde in jenem Augenblick Jesu Eigentum und freut sich heute mehr denn je, daß sie es ist. Siehe, lieber Leser, das ist Glauben, wenn man als Mühseliger und Beladener zu Jesus kommt und aus Seiner Hand die Vergebung empfängt. Nicht vergessen sollst du deine Sünden, sondern vergeben will sie dir Gott. Gott haßt die Sünde, aber Er liebt den Sünder. Trotzdem der verlorene Sohn sein Gut umgebracht mit Prassen, bleibt ihm doch das Vaterhaus offen, das Vaterherz ihm zugetan und die Vaterliebe so brennend, daß sie dem Verlorenen entgegeneilt, sobald sie ihn umkehren sieht. Man hat mit Recht gesagt, daß der Ruf Gottes an Adam: „Wo bist du?“ ein Ruf tiefen Schmerzes gewesen sei. Gott hat zuerst den Verlust empfunden und deshalb auch den ersten Schritt getan. Gott hat immer den ersten Schritt getan, auch den ersten Schritt zur Versöhnung mit uns. „Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit Sich selbst“ Er hat Den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht, auf daß uns in Ihm die Gerechtigkeit zuteil würde, die vor Gott gilt. Denn wie wir ohne unser Dafürkönnen durch den ersten Die notwendigste Lebensfrage - Was muss ich tun? 13 Menschen, Adam, verloren gingen, so sind wir ohne unser Dazutun durch den zweiten Menschen, Christus, wieder gerettet. Wir gingen alle in der Irre, waren blind und unbekümmert um unsere Seelen, taten nichts und konnten nichts tun für ihre Rettung. Aber da trat Gott ein. „Der Herr warf unser aller Sünde auf Ihn“ (Jes. 53,6). Gott selbst hat unsere Sünde in Seine Hand genommen und hat sie mit Seinen eigenen Händen auf Seinen Sohn geworfen. Nicht du mußt deine Sünden auf den Sohn werfen. Nein, das tat Gott (Römer 8,3). Ein Ungläubiger las einmal Jesaja 53 und rief verwundert aus: „Wenn das wahr ist, dann bin ich auch erlöst, und zwar von Gott selber.“ Der Ungläubige hatte mehr Licht über die Erlösung als viele, die sich Gläubige nennen. Er hat recht: wir sind erlöst, und zwar von Gott selber. Die Vergebung ist da; sie ist ein Geschenk von Gott bereitet für jeden. Die Bibel redet von einer Vorbereitung für den Himmel, aber nicht von einer Vorbereitung, um zum Heiland zu kommen. Die einzige Vorbereitung hierzu ist, daß wir wollen versöhnt und erlöst sein. Ein Mädchen, das wegen seiner Sünden sehr beunruhigt war, fragte mich einmal: Darf ich denn so von heute auf morgen glauben an die Vergebung? Ich sagte: #ein! Die Bibel hat ein doppeltes #ein auf deine Frage. Erstens ein „Nein“ auf dein: „Darf ich?“, denn es ist Gottes Gebot, daß wir glauben an den Namen Seines Sohnes (1.Joh. 3,23), und ein zweites „Nein“ auf dein „von heute auf morgen“; denn Gott sagt: Heute, wie gesagt ist: heute (Hebr. 4,7) und noch bestimmter: Jetzt ist die angenehme Zeit (2.Kor. 6,2). Das Kind empfing in jener Stunde Vergebung und Frieden. Um die Vergebung anzunehmen im Glauben, brauchst du nicht Tag und Stunden. Du kannst dies während des Lesens dieser Zeilen. Der Kerkermeister, dem diese Worte: „Glaube an den Herrn Jesus Christus, so wirst du und dein Haus selig“, zuerst galten, kam in dem Augenblick, als er diese Worte hörte, zu Jesus und empfing Vergebung. Dieser Glaube trennt auch von der Sünde. Als Mose am Hofe der Tochter Pharaos glauben lernte, sagte er dem Sündenleben am Hofe rein ab und erwählte die Schmach Christi. Der Kerkermeister, als er glaubte, hörte auf mit seiner Gewalttat und wusch den Knechten Gottes die Striemen. Wahrer Glaube trennt von der Sünde und verändert das ganze Leben eines Menschen. Und wenn dich dein Glaube nicht 14 Georg Steinberger von der Sünde geschieden hat, so kannst du dich jeden Augenblick von deinem Glauben scheiden; denn er ist nichts wert. Dieser Glaube rettet auch vom kommenden Zorn. Wer an den Sohn glaubt, kommt nicht ins Gericht. Es gibt einen zukünftigen Zorn, aber nicht für den Gerechten, sondern für den Gottlosen. Wir lesen Offenbarung 6, daß Zeiten kommen werden, wo Könige, Große, Oberste, Reiche, Starke, Knechte und Freie die Berge und Felsen anrufen: Fallt auf uns und verbergt uns vor dem Zorn des Lammes! Dann werden wehklagen alle Geschlechter der Erde. Hunger und Tod, Schwert und Pestilenz werden die Erde bedecken; die Menschen werden verschmachten vor Furcht und vor Warten der Dinge, die da kommen sollen. Aber wer Jesus im Glauben besitzt, ist geborgen. Kein Zorn kann ihn treffen, denn der Richter ist sein Freund. Nichts kann ihn in die Hölle verdammen; denn Jesus ist sein Bürge, der für ihn eintritt. O Freund, was mußt du tun, um Vergebung deiner Sünden, Ruhe für dein Gewissen, Befreiung von deiner Sünde, Errettung vom zukünftigen Zorn zu erlangen, um selig zu werden? Du mußt Jesus haben! Denn wer den Sohn hat, hat das ewige Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen. 

In der Schwebe Wie lange hältst Du unsere Seelen in der Schwebe? Joh. 10,24. engl. Übers. Auf einem Bahnhof in der Schweiz sah ich vor einiger Zeit, wie eine Frau mit einem Kind auf dem Arm über die Schienengleise sprang, trotzdem ein großes Schild den Reisenden sagte: „Das überschreiten der Gleise ist verboten!“ Voll Erregung und Angst rief ihr der Portier zu: „Halt! es kommt ein Zug!“ Aber statt stehenzubleiben oder zurückzugehen, sprang sie vorwärts und fiel mitsamt dem Kind auf die Schienen, auf denen etwa fünfzig Meter entfernt ein Zug daherfuhr. Durch Gottes wunderbare Fügung waren gerade vor ihr auf dem Bahnsteig einige kräftige Männer, die Geistesgegenwart genug besaßen, die Frau samt dem Kind auf den Bahnsteig hinaufzureißen. Und kaum war dies geschehen, so fuhr der Zug über dieselbe Stelle, wo noch vor einigen Augenblicken die Frau gelegen hatte. Ich zitterte vor Schreck mit dieser Frau. Und niemand war auf dem Bahnhof, der nicht Mitleid gegen sie bezeugte. Selbst der Portier ging in einer andern Richtung fort, damit er nicht mit der Übertreterin schelten müsse. Als ich dann im Bahnwagen saß, bewegten mich die ernsten Gedanken: Wie viele unsterbliche Seelen um dich her sind, ähnlich dieser Frau, in der Schwebe! Gleich jener sind nur noch einige Sekunden zwischen Leben und Tod, zwischen Zeit und Ewigkeit, zwischen Gerettetwerden und Verlorengehen. Zitterst du auch für sie? fragte ich mich. Bezeugen auch andere Mitleid gegen sie? Ach, wer kümmert sich auch um das Seelenheil seiner Mitmenschen! Wer bangt für ihre Zukunft? O, wie sind wir Christen so tief gefallen! Wie sind wir so hart und kalt geworden gegeneinander! Wer würde noch glauben, daß Christen Brüder sind untereinander! Wir interessieren uns gegenseitig für alles andere mehr als für unsere unsterbliche Seele. Und was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele? Und was kann der Mensch geben, damit er seine Seele wieder löse? Nichts! Die Schuld der Sünde ist zu groß, der Fall zu tief, die Ketten und Fesseln Satans zu stark, als daß wir uns selber retten könnten! Das kann nur einer, Jesus, der Er16 retter der Seelen. Er hat auf sich genommen die Last unserer Sünden und hat ihre Macht gebrochen. Er ist für uns in das Gericht gegangen und hat uns frei gemacht von der Obrigkeit der Finsternis und der Gewalt des Satans. Denn, wen der Sohn frei macht, der ist recht frei. Er schenkt ihm alle Schuld. Teurer Leser, hast du Vergebung für deine Sünden? Ist deine schuldbefleckte Vergangenheit zugedeckt mit dem Blute des Lammes? Weißt du dich in Jesu Händen als Sein Eigentum? Hast du eine Stunde in deinem Leben, wo du dich deinem Heiland mit Seele und Leib für Zeit und Ewigkeit zurückgegeben hast? Was nützt es dir, zu wissen: Jesus vergibt Sünden, wenn deine Sünden nicht vergeben sind? Was hilft es dir, zu bekennen: Jesus nimmt die Sünder an! wenn du nicht sagen kannst: Auch mich hat Er angenommen? Sieh, du bist gleich jener Frau noch in der Schwebe. In wenigen Sekunden kann dein Lebensfaden abgeschnitten werden, und nicht ein Eisenbahnunglück, nicht ein Unglück für deinen Leib steht dir bevor, sondern vielmehr ein Unglück für deine unsterbliche Seele. Darum, gleich jenen Männern auf dem Bahnsteig, möchte ich dich fassen mit starken Worten der Liebe und innigen Erbarmens und dich suchen, dem drohenden Verderben zu entreißen. Ich möchte dich auf das Plätzlein bringen, wo man dem an uns vorüberrasenden Verderben mit Ruhe und Sicherheit zusehen kann. Und dieser Platz ist unter dem Kreuz auf Golgatha. Aber diese Zeilen gelten ja vor allem solchen, die mit Agrippa sagen müssen: „Es fehlt nicht viel, und ich würde ein Christ“, die gleich den Juden sich vor die ernste Tatsache gestellt sehen, sich entweder für oder gegen Christus zu entscheiden. „Wie lange hältst du unsere Seelen in der Schwebe?“ Mit dieser Frage oder, besser gesagt, mit diesem Vorwurf umringten die Juden Jesus in der Halle Salomos. Sie hatten des Johannes Zeugnis gehört: „Siehe, das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt“; sie hatten Jesu Forderung vernommen: „Es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen“; sie hatten Sein Zeugnis von Ihm selbst gehört; sie hatten Seine Wunderwerke gesehen; sie hatten Sein heiliges Leben beobachtet, und doch waren sie immer noch in der Schwebe. Darum gibt Jesus ihnen ihren Vorwurf zurück mit einem andern: „Ihr glauIn der Schwebe 17 bet nicht; denn ihr seid meine Schafe nicht!“ Das heißt auch: Ihr wollt nicht, denn ihr seid doppelherzig; ihr könnt nicht, denn ihr seid doppelhörig und menschengefällig. Wie könnt ihr glauben, die ihr Ehre voneinander nehmt, und die Ehre, die vor Gott allein gilt, sucht ihr nicht? Bist du nicht in ähnlicher Lage? Hast du nicht auch alles dies noch viel besser gehört, gesehen und beobachtet, und doch – was hält dich in der Schwebe? Das gleiche, was jene Leute hielt? Wenn nicht, so laß mich hier einiges aufzählen, vielleicht findest du das deinige darunter. Du hältst deine Seele in der Schwebe durch Unentschiedenheit. Der Tod ist der Sünde Lohn; die Gabe Gottes aber ist das ewige Leben. Eins von beiden mußt du wählen. Die Bibel ist ein entschiedenes Buch. Vom ersten bis zum letzten Blatt ruft sie dir zu: Entscheide dich, entscheide dich heute, entscheide dich jetzt! Eine neutrale Stellung kennt die Bibel nicht. Gott steht da mit offenen Armen und ruft: Komm! Aber an dir ist es, Schritte zu tun. Gott kann nicht für dich Buße tun, nicht für dich glauben, sich nicht für dich entscheiden; das ist allein deine Sache. Jeder, der durch die Tore des Himmels eingehen will, muß den Weg, der zum Himmel führt, selbst unter die Füße nehmen. Durch bloßes Wünschen kommt man nicht an einen Ort; man muß sich auf den Weg machen. Gerade das hast du bis jetzt versäumt, und deshalb hältst du deine Seele in der Schwebe, bis der Lebensfaden abgeschnitten ist, wo es dann für ewig zu spät ist, um noch Schritte zu tun. Ich kannte einen sehr intelligenten jungen Mann. Er wurde erweckt durch den Geist Gottes und war entschlossen, sich zu bekehren; aber da traten seine Freunde und die fromme Welt dazwischen und sagten: „Was machst du? Ein junger, braver, achtbarer Mann wie du, will sich zu den Pietisten halten? Das tut doch kein vernünftiger Mensch. Laß dir nicht den Kopf verdrehen; du bist gewiß recht; wären nur alle Leute so wie du!“ Und der Jüngling folgte. Allmählich erlosch das Feuer wieder in seinem Herzen; er glaubte, daß er nicht so schlecht sei wie andere und daß er somit seine Sache mit seiner Seele auch schneller in Ordnung habe als ein anderer. Aber was geschah? Sieben Jahre später wurde der junge Mann plötzlich schwer krank, und mit der Krankheit wachte auch das eingeschläferte Gewissen auf. Aber ehe er zur Klarheit über seinen Seelenzustand kommen konnte, wurde er bewußtlos, und in 18 Georg Steinberger diesem bewußtlosen Zustand ging er in die Ewigkeit hinüber, um dort mit dem Schreckensruf und mit dem Gewissensvorwurf aufzuwachen: „Ich habe meine Seele so lange in der Schwebe gehalten, bis sie verloren war.“ Das ist der Fluch der Unentschiedenheit. Du hältst deine Seele in der Schwebe durch Sündenliebe. Die Sünde ist gleich dem Gelde des Judas, wofür er seinen Herrn verkaufte. In den Händen schimmert’s, in dem Herzen wimmert’s. Der Teufel stößt seine Knechte von dem offenen Grab in die offene Hölle hinunter. Solange du nicht brechen willst mit jeder erkannten Sünde, versuchst du den Teufel, dich zu versuchen. Du sagst: „Nur eine Sünde, das kann doch nicht so schlimm sein!“ Eine Sünde kann ebenso gut in die Hölle bringen als eine Million Sünden. Um einer Sünde willen wurden die ersten Eltern zum Paradiese hinausgestoßen, um einer Sünde willen verlor Esau sein Erstgeburtsrecht, um einer Sünde willen verlor Saul sein Königreich. Nur eins fehlte dem reichen Jüngling; er war nicht los von seinem Besitz. Nur eins fehlte den törichten Jungfrauen; sie hatten kein Öl in ihren Lampen. Gewiß gehen viele Seelen hinüber in Nacht und Qual, und wenn wir sie fragen könnten: „Warum seid ihr hier?“, sie würden antworten: „Ach, nur eins war schuld!“ Denke nicht, du habest nur eine oder zwei ganz kleine Sünden. Achan wurde um einer Sünde willen gesteinigt. Ich fuhr vor Jahren in ein Bergwerk hinunter, um zu sehen, wo und wie die Bergleute arbeiten. Meinst du, es wäre uns gleichgültig gewesen, wenn es plötzlich geheißen hätte: „Es ist ein Glied an der Kette des Fahrkorbs gebrochen; aber nur eins!“ Hätten wir uns im Fahrkorb trösten können, daß von den tausend Ringen nur einer gebrochen ist? O, gewiß nicht! Es wäre für uns gewesen, als ob sie alle gebrochen wären. Und Tod und nichts als Tod wäre unser Teil gewesen. Und hättest du in Wahrheit nur eine Sünde, was wäre deine Aussicht? Die Tiefe, die Finsternis. Auch eine Sünde scheidet von Gott. Du hältst deine Seele in der Schwebe durch Aufschieben. Du sagst wie Agrippa oder Felix: Es fehlt nicht viel, und ich würde ein Christ; aber gehe hin für diesmal – ein andermal dann! Wir haben nicht gehört, daß Felix ein andermal sich bekehrt hat. Er hätte es tun sollen in jenem Augenblick. Denn da wirkten Gottes Geist und Wort mächtig in seinem Herzen. Niemand kann sich selbst bekehren, „doch muß man auf es eingeIn der Schwebe 19 hen“. Es gibt einen Zug des Vaters hin zum Sohne, ein Erwecken und Treiben des Heiligen Geistes, und wenn man da nicht folgt, ist wenig oder keine Hoffnung für eine Bekehrung vorhanden. Du denkst: „Aufgeschoben ist nicht aufgehoben!“ Mit vielen Dingen ist es so, zum Beispiel mit deinen Sünden, aber nicht auch mit deiner Bekehrung. Mit tiefem Schmerz spreche ich es hier aus, daß ich eine ganze Anzahl Seelen gekannt habe, bei denen in Wahrheit: Aufgeschoben auch aufgehoben war. In einer Stadt Deutschlands wohnten zwei fromme Leute. Sie hatten ein einziges Töchterlein, namens Berta. Die Eltern beteten viel für ihr Kind und mahnten es zur Umkehr. Aber das Kind dachte: „Ich bin noch so jung und soll schon fromm werden und die Welt fliehen, die doch so schön ist. Das kann ich nicht!“ Der Winter kam, und es wurden 14 Tage lang Bekehrungsversammlungen gehalten in der Stadt. Die Eltern gingen auch hin mit ihrem Kind. Der Prediger forderte in feierlich-ernster Weise auf zur Entscheidung für Jesus. Auch Berta wurde berührt und kam in die Schwebe, was sie tun sollte. Sie wußte, daß sie sich entscheiden sollte. Auf dem Weg und zu Hause kämpfte sie mit dem Gedanken: Soll ich, oder soll ich nicht? Und um sich zu beruhigen, schrieb sie, bevor sie ins Bett ging, auf ein Zettelchen: „In sechs Wochen will ich mich bekehren.“ Aber das Gewissen war noch nicht befriedigt und das Herz noch nicht still; darum schrieb sie: „In vier Wochen will ich mich bekehren.“ Aber noch war’s nicht still, und sie schrieb: „In vierzehn Tagen will ich mich bekehren.“ Und noch mahnte sie die freundliche Hirtenstimme des Heilands, und sie schrieb noch einmal: „Morgen will ich mich bekehren.“ Aber den gab es nicht mehr für sie; denn in jener Nacht wurde, ohne daß sie es merkte, ihr Lebensfaden abgeschnitten und sie vor Den gestellt, für Den sie sich nicht entscheiden konnte. Am Morgen fanden die Eltern ihr Kind tot im Bett. Ein Herzschlag hatte ihren Lebensfaden zerrissen. Aber was den Schmerz der Eltern noch vergrößerte und fast unerträglich machte, war das Zettelchen auf dem Nachttisch mit der Aufschrift: Morgen will ich mich bekehren! Du hältst deine Seele in der Schwebe durch Feigheit. Feige Leute wissen den Weg und wissen auch, daß sie diesen Weg gehen müssen; aber sie suchen ihre Feigheit zu decken mit Ausreden. Dem einen ist das Amt im Wege, dem andern das Geschäft, einem dritten 20 Georg Steinberger der Vater, einem vierten die Freunde usw. Ferne sei es von uns, die Schwierigkeiten, die dem einen oder dem anderen im Wege liegen, gering zu schätzen. Hätte doch den reichen Jüngling die Bekehrung sein ganzes Vermögen gekostet – eine niederschmetternde Wahrheit für alle, die da meinen, man könnte fromm sein, ohne dabei etwas einzubüßen. Wir geben zu, daß der Weg zu deiner Bekehrung dicht besät ist mit Schwierigkeiten; aber Gott, der dich erschaffen, versöhnt, ernährt, mit Geduld getragen hat, hat ein Recht, zu verlangen, daß du um Seinetwillen alle Hindernisse durchbrichst. Der Mensch hat nur auf Einen Rücksicht zu nehmen, und dieser Eine ist Gott. Jeder, der bekehrt ist, hat sein Gewissen zu Wort kommen lassen. Feiglinge aber schlagen ihr Gewissen tot mit ihren fluchwürdigen Ausreden und bilden sich dann ein, es stehe recht mit ihnen. In dem furchtbar schwarzen Register der Verlorenen (Offb. 21,8) stehen obenan die Feiglinge. „Draußen sind die Feiglinge!“ Feiglinge wählen den „goldenen Mittelweg“ und sagen: Nicht so fromm und nicht so gottlos, so kommt man am besten durch. So mag man am besten durchkommen in der Welt; aber nicht vor Gott. Von einem goldenen Mittelweg weiß die Schrift nichts; sie kennt nur solche, die Gott angehören und die Ihm nicht angehören. Von Abraham, Mose und andern lesen wir: „Er wurde gesammelt zu seinem Volk.“ Welches hier dein Volk ist, wird es auch drüben sein. In Offenbarung 14,1 lesen wir: „Und ich sah das Lamm stehen und mit Ihm hundertvierundvierzigtausend“, das ist ein Volk! Im 11. Vers lesen wir: „Und der Rauch ihrer Qual wird aufsteigen von Ewigkeit zu Ewigkeit, und sie haben keine Ruhe Tag und Nacht.“ Das ist ein anderes Volk! In Offenbarung 7,14 lesen wir: „Sie haben ihre Kleider gewaschen und helle gemacht im Blute des Lammes; darum sind sie vor dem Stuhl Gottes.“ Das ist ein Volk! In Offenbarung 6,16 lesen wir: Sie sprachen zu den Bergen und Felsen: „Fallt auf uns und verbergt uns vor dem Angesicht dessen, der auf dem Thron sitzt, und vor dem Zorn des Lammes.“ Das ist ein anderes Volk! Zu welchem von diesen beiden gehörst du? Du hältst deine Seele in der Schwebe durch falsche Frömmigkeit. Viel mehr Leute, als wir meinen, halten ihre Seele in der Schwebe durch Religiosität. Ihre Religionsübungen setzen sie an die Stelle von Buße, Glauben und Herzenserneuerung. Auf die Sakramente setzen In der Schwebe 21 sie mehr Vertrauen als auf Christus. Kürzlich fragte ich einen solchen Mann: „Was machen Sie mit Ihren Sünden?“ „Ich gehe jedes Jahr zweimal zum Abendmahl, da finde ich Vergebung“, war seine Antwort. Ich sagte: „Erstens vergibt das Abendmahl nicht die Sünde; denn es ist nur Gedächtnismahl für die, welche durch den Glauben an den Gekreuzigten Vergebung der Sünde erlangt haben, und ein Stärkungsmahl für die, welche dem Heiland nachfolgen,“ und zweitens, sagte ich: „Angenommen, Sie würden zwischen beiden Abendmahlstagen sterben, wo bleiben dann Ihre Sünden?“ „Nun, dann würde ich mir eben noch schnell das Abendmahl reichen lassen“, erwiderte er. So macht man das Abendmahl zum Freipaß für den Himmel und bleibt dabei in Sünde und Schande stecken bis an sein Ende. So versündigt man sich nicht nur amAbendmahl, sondern bringt auch seine Seele durch diesen Betrug ins Verderben. – Andere halten ihre Seele in der Schwebe durch ihre Selbstgerechtigkeit. Du sagst: Ich bin nicht so schlecht wie der und die. Täusche dich nicht! Du bist so besudelt und befleckt wie jeder andere, wenn auch nicht mit Zöllnerschmutz, so doch mit Schmutz der Pharisäer. Der Selbstgerechte ist wie ein zugeschneiter Dunghaufen. Wer andern die Ehre stiehlt, ist nicht besser als der, welcher Geld stiehlt, und wer seinen Bruder haßt, ist ein Totschläger, sagt die Schrift. Du hältst deine Seele in der Schwebe durch deinen Unglauben. Würdest du es nicht unverantwortlich finden, wenn ein Mensch, der in Todesgefahr schwebt, fortwährend die Rettungsversuche von Seiten seiner Freunde ausschlagen würde? Und siehe, machst du es nicht ähnlich mit deiner unsterblichen Seele? Es geht dir gleich dem Pharao, der durch Unglauben sein Herz verhärtete und so seine Seele und die Seele seines Volkes verderbte. Niemand geht verloren um seiner Sünde willen, sondern einzig und allein um seines Unglaubens willen. Die Sünde hat Gott mit Seinen eigenen Händen aus dem Wege geräumt, sie ist also kein Hindernis mehr. Gott hat alles getan, was Er tun konnte. Gott hat sich selbst versöhnt mit uns und bietet uns nun die Versöhnung an. Gott hat uns alle Sünden geschenkt und bietet uns nun die Vergebung an als ein Geschenk. Das Handeln ist nun auf unserer Seite. Gott kann nicht für uns Buße tun, nicht für uns glauben, nicht für uns das Heil annehmen. Das ist unsere Sache. Darum ist Unglaube die schändlichste Sünde; denn er macht Gott 22 Georg Steinberger zum Lügner. Durch Unglauben hältst du deine Sünde in deinem Gewissen, in deiner Seele fest. Und so bleibst du: In der Schwebe im Angesicht des Todes! Wenn du den großen Schritt machen mußt aus der Zeit in die Ewigkeit, weißt du nicht, wohin du deinen Fuß setzen sollst. Alles schwindet unter deinen Füßen, alles zerrinnt in deinen Händen. Petrus sagt: „Auf daß ihr das Ende eures Glaubens davonbringt, nämlich der Seelen Seligkeit.“ Und wenn du diese nicht davongebracht hast, was nützt dir alles andere? Ist es nicht wahr: Die Seele verloren, alles verloren!? Und das merken viele erst in der Stunde des Todes. Darum die Todesangst. Sie verlieren im Tode alles. Mit jenem reichen Mann müssen sie ausrufen: Ich habe alles hinter mir und nichts vor mir! Auch ist die Todesangst in vielen Fällen nichts anderes als ein Vorbote der Hölle. Der Mensch empfindet, wenn auch unbewußt, wie die guten Geister weichen und die bösen ihren Platz einnehmen. Vor Jahren kam ich an das Sterbebett eines alten Mannes. Die Todesangst stand auf seiner Stirn geschrieben. Ich fragte: „Großvater, ist es Ihnen angst?“ „Ja!“ war seine Antwort. Ich fragte: „Wie alt sind Sie?“ „Vierundachtzig Jahre“. Ich hätte blutige Tränen weinen mögen, daß ein Mensch in unserer Christenheit mit vierundachtzig Jahren aus der Zeit in die Ewigkeit gehen muß ohne Vergebung der Sünden, ohne Frieden mit Gott, ohne Hoffnung und Gewißheit des ewigen Lebens. In der Schwebe am Tage des Gerichts! Wenn der Himmel zurückweicht und für die Erde keine Stätte mehr gefunden wird, wenn der große weiße Thron (Offb. 20) an der Stelle des Himmels steht und um denselben her alle Geschlechter der Erde, Tote, beide groß und klein, stehen, wenn das Buch des Lebens des Lammes aufgetan wird und die Namen derer aufgerufen werden, die ihre Kleider gewaschen und helle gemacht haben im Blute des Lammes und die dem Lamme nachgefolgt sind, wo Es irgend hingegangen ist, o, in welche Schwebe werden dann die kommen, die sich hier nicht für Jesus entschieden und die dort Er nicht kennt, deren Namen Er nicht aussprechen mag! An einem Ort, an dem ich einmal Bekehrungsversammlungen hielt, kam auch ein junger Mann in den Saal, aber nicht um sich zu bekehren, sondern um die andern zu stören. Er fluchte und beunruhigte fortwährend die andern. Wir beteten für ihn, und in jener Nacht träumte er, der Tag des Gerichts sei gekommen. Alle Menschen wurIn der Schwebe 23 den versammelt vor dem Thron Gottes. Vor dem Throne war ein kleines Brett, auf das jeder treten mußte. Blieb das Brett fest, so durfte der Betreffende hinüber in den Himmel. Bei den meisten aber neigte sich das Brett auf die Seite, und der darauf stand, fiel hinunter in eine schaurige Schlucht. Endlich nach langem, langem Warten kam auch die Reihe an ihn. Er mußte hervortreten, und schon als er einen Fuß auf das Brett setzte, fing es an, sich zu bewegen. Er stieß einen furchtbaren Schrei aus, der ihn aus der schrecklichen Situation befreite. Wird es nicht in Wahrheit so gehen am Tage des Gerichts? werden da nicht alle in diese furchtbare Schwebe kommen, die heute ihre Seele nicht dem anvertrauen, dem sie gehört, der sie mit Seinem Blut erkauft und mit Seinem Leben bezahlt hat? Gewiß! Aber nur mit dem Unterschied, daß dort Wirklichkeit sein wird, was hier nur Traum war. Teurer Leser! Gewiß hast du schon gehört von einem Präriebrand, wo oft auf unerklärliche Weise das dürre Wüstengras in Brand gerät und mit Windeseile um sich frißt und alles verdirbt, was in seine Nähe kommt. Weißt du auch, wie sich die Wüstenbewohner gegen dieses furchtbare Verderben retten? Sie zünden schnell das um sie her stehende dürre Gras an, und wenn dann die Feuerwelle dahergerast kommt, findet sie keine Nahrung mehr, denn das Feuer hat schon sein Werk getan. So schneiden sie dem Feuermeer den Weg ab und bleiben verschont. Jedem unbekehrten Menschen droht das höllische Feuer, das vom Odem des Allmächtigen angezündet ist und das nie erlöscht. Und gibt es auch ein Plätzlein, wo dieses Feuer nicht brennen kann? Gottlob, ja! Unter dem Kreuz auf Golgatha ist dieses Plätzlein. Dort ist das Zornfeuer des Gerichts über den Sohn Gottes gegangen. Und nun ist eine sichere Zuflucht bei Ihm, eine Zuflucht vor dem Ungewitter, ein Schatten vor der Hitze. Komm unter das Kreuz, da ist die Freistatt für den todeswürdigen Sünder, da fließt der Born wider alle Sünde und Unreinheit, da nehmen die heiligen Gotteshände dir deine Last ab und strecken sich dir hin zum Friedensbund, und so kommt deine Seele aus der Schwebe. 24 Georg Steinberger Komm zum Kreuz! Komm zum Kreuz mit deinen Lasten, Müder Pilger du. Bei dem Kreuze kannst du rasten. Da ist Ruh’. Da stillt Er dein heiß Verlangen, Heilet deinen Schmerz. Frieden wirst du da empfangen, Müdes Herz. Trost, Vergebung, ew’ges Leben Fließt vom Kreuz dir zu. Bei dem Kreuz wird dir gegeben Himmelsruh’. Zum Kreuze möchte ich dich führen, lieber Leser, damit du da Heilung für deine Wunden, Ruhe für dein Gewissen, Frieden für deine Seele, Vergebung für deine Sünden und Kraft zu einem neuen Leben finden möchtest. Unter dem Kreuz, und nur da, können der Heilige Gott und der Sünder einander begegnen; dort wird der Friedensbund geschlossen zwischen dem Sünder, dem seine Sünden, wie eine schwere Last, zu schwer geworden sind, und dem gnädigen und barmherzigen Gott. Dort legen sich die durchgrabnen Hände des Heilands auf das wunde Herz des armen Sünders; dort reinigt Er das schuldbeladene Gewissen mit dem Blute der Versöhnung, so daß man es glauben lernt: Sein Kreuz bedeckt meine Schuld, Sein Blut macht hell mich und rein. Komm, stelle dich unter das Kreuz und sieh, höre, finde und empfange, was deine Seele entlastet und dein müdes Herz erquickt und aufrichtet. – Mein Wunsch ist erfüllt, und diese Zeilen haben ihren Zweck erreicht, wenn die Herrlichkeit des Kreuzes Christi so dein Auge anzieht, deine Seele erfüllt und dein Herz gefangennimmt, daß du wie Paulus hinfort nichts andres mehr zu rühmen weißt als allein das Kreuz unseres Herrn Jesu Christi, und wie Zinzendorf nichts andres mehr bewundern kannst als allein das geschlachtete Lamm. 25 Tritt unter das Kreuz nicht als kalter Beobachter wie das Volk, nicht als Feind wie die Pharisäer, nicht als Spötter wie der Schächer zur Linken, nicht wie die Kriegsknechte, die nur Kleidung suchen, sondern wie die Frauen, die sehen, wie ihr Herr stirbt. Steh und sieh auf zu dem Baum des Lebens und lebe! Denn der bloße Blick nach dem Kreuz ist Leben rettend, wie 4.Mose 21 von der ehernen Schlange, dem Vorbild des Kreuzes, geschrieben steht: „Wenn eine Schlange jemand gebissen hatte, und er schaute auf zu der ehernen Schlange, so blieb er am Leben.“ Und damit du recht sehest, möchte ich dir hier mit einigen Winken zu Hilfe kommen und dir zuerst sagen: 1. Unter dem Kreuze sehen wir Gottes Vaterliebe zu uns in ihrem Höhepunkt Gott hat uns drei Bücher gegeben, worin wir Seine Liebe lesen können: Das Buch der #atur, unser eigenes Leben, zu dem uns jedes neue Jahr einen neuen Band hinzulegt, und das teure Bibelbuch. Wir finden Gottes Liebe auf jedem Schritt in der Natur; wir finden sie in unserm Leben überreichlich. Aber wir brauchen mehr als Schöpferliebe, mehr als fürsorgende und bewahrende Liebe. Wir tragen eine unsterbliche Seele in uns, die ein Hauch aus Gott ist, und die wir mit Sünden beladen und mit Ungerechtigkeit befleckt haben, eine Seele, die nach Freiheit, Frieden und Ruhe seufzt, und die auf alle unsre Bemühungen, sie zu befriedigen, die stete Klage hat: Gebt mir alles, und ich bleibe Ohne Gott doch arm und leer. Es gibt Leute, die sagen: „Wenn ich Gottesdienst tun will, gehe ich hinaus in Gottes Natur. Da ist der Wald mein Dom, das Rauschen in den Wipfeln der Bäume mein Gesang, und die singenden Vögel sind meine Prediger.“ Haben diese Leute recht? Kann man in der Natur Gott finden? Ganz gewiß! In jedem hohen Baum und jedem kleinen Pflänzlein, in jedem Vöglein in der Luft und jedem kleinen Fischlein im Wasser, in jedem gewaltigen Felsblock und jedem kleinen Steinchen am Wege tritt uns die Schöpferliebe Gottes entgegen. Aber kann die Natur die Seele befriedigen? Nein! Im Gegenteil! Die Harmonie in der Schöpfung läßt uns die Disharmonie in unserm In26 Georg Steinberger nern nur um so stärker fühlen, und es erwacht der Schrei nach Erlösung. Was unsre Seele befriedigt, ist allein die rettende, versöhnende und beseligende Liebe Gottes, geoffenbart und verbürgt mit dem heiligen Buch, dessen Kristall der Spruch ist: „Also hat Gott die Welt geliebt, daß Er Seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß alle, die an Ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“ Diese Liebe ist es, die unsre Seele sättigt und uns mit ihren Seilen wieder an Gott, unser Element, bindet. Früher fürchtete ich Gott immer als einen zürnenden Richter, der mich in Seinem Zornesfeuer wie Stroh verzehren würde, wenn nicht Christus zwischen mir und Ihm Versöhnung tun würde, bis ich unter das Kreuz trat und dort sah und las: Gott hat also geliebt, daß Er Seinen Sohn gab für die Welt – Gott war in Christus und versöhnte – Gott wirkt Wollen und Vollbringen zu unsrer Rettung – Gott gab den Heiligen Geist als Tröster, Lehrer und Führer zu Seiner Herrlichkeit – Gott erwählte in Christus vor Grundlegung der Welt uns zu Seinen Kindern! So, sagte ich, das tat Gott? Schon vor Grundlegung der Welt beschäftigte Er sich mit mir, dachte Er darüber nach, wie Er mich glücklich und selig machen könnte? Schon vor Grundlegung der Welt hat Er Seinen Sohn auserwählt als Lamm, das an meiner Statt Fluch und Strafe tragen sollte? Und als die Zeit erfüllt war, gab Er Ihn und warf auf Ihn meine Schuld und meine Sünde, verschloß in Gethsemane vor Ihm Sein Ohr, verbarg auf Golgatha vor Ihm Sein Angesicht, ließ aus Ihm den Allerverachtetsten machen, so verachtet, daß Er selbst seufzen mußte: „Ich bin ein Wurm und kein Mensch!“? Und das alles, um mich Wurm aus dem Kot der Sünde aufzuheben, damit der Feind mich nicht gar zertrete? Tat das Gott? Ja, das tat Gott! Ach, da erweiterte sich mein Herz! Denn: Könnt ich hier noch fühllos sein, O, so wär’ ich mehr als Stein! Da trat an die Stelle der Furcht Liebe, an die Stelle des knechtischen Geistes der kindliche Geist; da lernte ich rufen: „Abba, Vater!“ Ich kann die Heiden verstehen, die den Missionar, der ihnen diese Botschaft bringt, in einem Ton der Freude, aber auch des Schmerzes fragen: „Habt ihr dieses Evangelium schon lange?“ Und auf das „Ja“ des Missionars ihm sagen: „Warum habt ihr es uns so lange vorenthalten?“ Ich kann mit jenem Mohammedaner fühlen, der, als er zum Komm zum Kreuz! 27 Georg Steinberger erstenmal ein Neues Testament in seine Hände bekam und den Spruch Johannes 3,16 las, ausrief: „Das ist es, was ich brauche! Das ist es, wonach ich mein Leben lang vergeblich gesucht habe! Dieser Gott ist mein, und ich bin Sein!“ Und dieser Mann hat es mit der Tat bewiesen; denn er hat um dieses Evangeliums willen alles verlassen und ist jetzt Missionar, um diese Lebens- und Friedensbotschaft: „Gott hat uns lieb“ denen zu bringen, die noch sitzen in Finsternis und Schatten des Todes. Teurer Leser, kennst du deinen Gott auch so? Kennst du Ihn als den Gott der Liebe? Oder ist dein Herz noch kalt gegen Ihn? O, ich bitte dich, komm unter das Kreuz und sieh, wie deinem Gott über deiner Herzenshärtigkeit das Herz gebrochen ist! Sieh so lange hin, bis das Feuer Seiner Liebe dein Herz schmilzt. Der Glaube kommt durch Hören, aber die Liebe durch Betrachtung. Denn die Liebe zu Gott wird geboren aus der Liebe Gottes zu uns. Gott gibt Seinen Sohn und offenbart dadurch Seine Liebe und erzeugt so die unsre. O, daß Seine Liebe so dein Herz entzünde und deinen Willen bestimmen könnte, daß du mit dem Dichter rühmen müßtest: Von Gott geliebt, fühl’ ich die Flamm’ Der heißen Gottesliebe glühn, Von Ihm erwählt, noch eh’ die Zeit begann, Erwählt’ ich wiederum auch Ihn. Kürzlich las ich von einer Mutter, deren Tochter eine Stelle in einer Großstadt angenommen hatte, daß eines Tages der Mutter die Nachricht gebracht wurde: „Marie ist nicht mehr in ihrer Stelle; sie ist auf den Pfad der offenen Schande und des Lasters gezogen worden.“ Sobald die Mutter dies vernahm, machte sie sich auf, um ihre Tochter aufzusuchen und heimzuführen. Doch das war ein schweres Unternehmen. Sie fand sie nicht, so sehr sie sich auch Mühe gab und fast Tag und Nacht umherirrte, das verlorene Kind zu suchen. Endlich mußte sie sich schweren Herzens entschließen, die Heimreise anzutreten. Aber da kam ihr plötzlich noch ein Gedanke. Sie ging zu einem Photographen und ließ sich ihr Bild machen, und sobald sie mehrere Abzüge desselben hatte, ging sie damit in die besuchtesten der verrufenen Wirtschaften und bat um die Erlaubnis, ihr Bild an die Wand hängen zu dürfen. Man gestattete ihr solches, und nunmehr reiste sie heim. – Nicht lange Zeit nachher kam die unglückliche 28 28 Tochter mit einer ihrer traurigen Gefährtinnen in eine dieser Wirtschaften. Ihr Blick fiel auf das kleine Bild an der Wand. „Die sieht aus wie meine Mutter“, rief sie erstaunt und prüfte die Züge genauer. Unter dem Bilde standen einige Worte. Ach, sie waren von der Mutter selbst geschrieben und hießen: „Marie, ich liebe dich noch immer.“ Das war zu viel! Das hatte sie nicht erwartet, vielmehr Verachtung und Haß. Der Gedanke, daß die Mutter hier gewesen sei, um die Verlorene in den Schlupfwinkeln der Sünde aufzusuchen und heimzuführen, überwältigte sie. Sie dachte nun zurück an ihre glückliche Kindheit, an ihrer Mutter Gebete, Lehren und Tränen. Sie seufzte: „Ach, wo bin ich hingekommen? Soll ich wieder heimkehren? Wie wird man mich zu Hause empfangen?“ Doch die Worte: „Marie, ich liebe dich noch immer“ trugen den Sieg davon. Ihr Herz war gewonnen; sie machte sich los von ihren Genossinnen und kehrte heim. Geliebter Leser, der du nicht des Herrn Eigentum bist, rührt dich nicht die Liebe dieser Mutter? Aber was ist sie im Vergleich zu der Liebe Gottes, geoffenbart in Jesus Christus, dem Gekreuzigten? Nur ein Fünklein von der Liebesglut, die auf Golgatha brennt. Dort hat auch Gott dir Sein Bildnis gegeben, über dem lesbar geschrieben steht: „Ich liebe dich noch immer!“ Sage, was müßte dein Gericht sein, wenn du solche Liebe gering achtest, dieses Heil verschmähst oder doch versäumst? Es gibt eine Frage, die man weder im Himmel noch auf Erden noch unter der Erde beantworten kann, sie heißt: Wie wollen wir entfliehen, so wir eine solche Seligkeit nicht achten? 2. Sehen wir unter dem Kreuze, was Stellvertretung ist, d. h. wie Christus an unsrer Statt unsre Sünde und damit auch unsre Strafe trägt. Für unsre Schuld mußte eine Zahlung geleistet und für unsre Sünde eine Sühne gebracht werden, um der Gerechtigkeit und Heiligkeit Gottes Genüge zu tun. Und wer wäre imstande gewesen, diese Sühne zu leisten, diese Schuld zu bezahlen? Kein andrer als Jesus, das Lamm Gottes, welches der ganzen Welt Sünde auf sich nahm. Er wurde der Mittler zwischen Gott und den Menschen, der vor Gott die Sache unsrer Seele führt. Er ist der Bürge, der Seinen letzten Blutstropfen für uns einsetzte. In Hesekiel 22,30-31 lesen wir: Komm zum Kreuz 29 „Ich suchte unter ihnen, ob sich jemand zur Mauer machte und wider den Riß stünde vor Mir wider dies Land, daß Ich es nicht verderbte. Aber Ich fand keinen. Darum schüttete Ich Meinen Zorn aus über sie, und mit dem Feuer Meines Grimmes machte Ich ihrer ein Ende und gab ihnen also ihren Verdienst auf den Kopf, spricht der Herr, Jahwe.“ Für Israel fand sich kein Mann, der in den Riß getreten wäre und die Gerichtsfluten aufgehalten hätte, obwohl Gott danach suchte. Für uns hat sich gottlob ein Mann gefunden, nicht unter den Engeln, nicht unter den Menschen; denn kein Bruder vermag den andern zu erlösen. Gott ging wohl auch die Reihen der Cherubim und Seraphim durch; Er sah sich wohl auch um unter den Starken und Mächtigen der Menschenkinder, ob einer imstande wäre, für das sündige Menschengeschlecht eine Sühne zu bringen und so Rettung zu schaffen. Aber dort fand sich keiner. Nur an einen konnte Gott noch denken, und das war Sein einziger Sohn. Sein Blick fiel auf Ihn, und zu Ihm gewandt, mag Er gesprochen haben: „Mein Sohn, Ich habe keinen gefunden, der den Kaufpreis bezahlen könnte für das verlorene, verschuldete Menschengeschlecht.“ Sogleich war der Sohn bereit und sprach zum Vater: „Vater, Deinen Willen tue Ich gern (Ps. 40, 9); gib Mir einen Leib (Hebr. 10,5); laß Mich Mensch werden, und Ich will hingehen und Dir das Verlorene wiederbringen.“ Und der Sohn versprach nicht nur, sondern Er kam und nahm auf sich unsre Schuld und hat durch Seinen Opfertod die große Kluft zwischen uns und unserm Gott überbrückt und hat Leben und unvergängliches Wesen ans Licht gebracht. Er trug unsre Sünden, die Gott auf Ihn legte. Kürzlich las ich von einem Inder, dessen Gewissen durch den Geist Gottes aufgeweckt war und der nach Ruhe und Frieden suchte, sie aber nicht finden konnte. In seiner Gewissensnot fragte er hin und her, was man denn tun müsse, um zum Frieden zu kommen. Fast ausschließlich sagte man ihm: „Du mußt beten!“ Und so betete er: Aber er fand nicht Frieden. Weil er meinte, die Ursache, warum er nicht zum Frieden kommen könnte, sei die, daß er noch nicht lange und ernstlich genug gebetet und gerungen habe, ging er eines Tages in den Wald, um dort ernst und laut schreien zu können. Nachdem er sich müde gebetet hatte, suchte er sich ein Plätzlein unter einem 30 Georg Steinberger Baum, um ein wenig zu ruhen. Bevor er sich niederlegte, hing er seinen Hut an einen abgebrochenen Ast. Während er nun so dalag und zum Baum hinaufschaute, einmal die Äste betrachtete, ein andermal auf seinen Hut blickte, durchfuhr ihn plötzlich der Gedanke: „Wie mein Hut nicht zu gleicher Zeit an dem Ast und auf meinem Kopf sein kann, so können auch meine Sünden nicht zu gleicher Zeit auf mir und auf Christus sein.“ „Aber wo sind sie nun?“ fragte er sich. Ebenso schnell trat das Wort Jesaja 53, 5 in sein Bewußtsein: „Der Herr warf unser aller Sünde auf Ihn.“ Da wurde es ihm auf einmal sonnenklar: „Wenn Gott meine Sünden auf den Sohn geworfen hat, dann ist der Platz, den Gott meinen Sünden gegeben hat, nicht mein Gewissen, sondern die Schultern Jesu.“ Vor Freuden sprang er auf, eilte heim zu seiner Frau und rief ihr schon von ferne zu: „Frau, ich hab’s, ich habe Frieden gefunden! Sieh, Gott warf schon vor 1800 Jahren alle unsre Sünden auf Seinen Sohn! Weißt du, Gott warf! Gott warf!“ Nachdem er ihr den ganzen Hergang erzählt hatte, fiel er mit seiner Frau auf die Knie und betete: „Vater im Himmel, ich danke Dir, daß Du alle meine Sünden auf den Sohn geworfen hast. Und ich danke Dir, Du Lamm Gottes, daß Du meine Sünden getragen hast, und daß ich nicht auch noch tragen muß, was Du getragen hast.“ Er ging für uns ins Gericht. Jesus ging hinein in die Tiefen des Zornes Gottes, der uns hätte treffen sollen. Er setzte sich den Flammen des Gerichts aus und ließ sich verzehren, damit wir für ewige Zeiten dem Gericht entnommen wären. In der Nähe von Buffalo, einer Hafenstadt Nordamerikas, steht ein Marmorkreuz, vor dem man oft einen gebeugten Greis mit tränenden Augen sitzen sah. Als man ihn fragte, warum er so gerne hier weile und das Kreuz anschaue, erzählte er folgende Geschichte: „Vor vielen Jahren fuhr ich auf einem Schiffe namens Schwalbe hierher. Eines Tages brach plötzlich Feuer aus auf dem Schiff. Einige Tonnen Teer, die dasselbe mit sich führte, gerieten in Brand. Eine große Verwirrung entstand unter uns Passagieren. Wir schrieen den Kapitän an: ,Wie weit ist es noch nach Buffalo? Können wir noch gerettet werden?‘ ,Es sind noch dreiviertel Stunden‘, antwortete der Kapitän, ,und wenn’s dem Steuermann möglich ist, seinen Platz am Steuerrad zu behaupten, so können wir alle gerettet werden‘ Der Komm zum Kreuz 31 Steuermann setzte nun seine ganze Kraft ein, um möglichst allen Passagieren das Leben zu retten. Der besorgte Kapitän, welcher wußte, daß der Steuermann der Feuersgefahr am meisten ausgesetzt war, rief nach einigen Minuten durch sein Sprachrohr: ,John Maynard!‘ (dies war nämlich der Name des Steuermanns). ,Ja, ja, Herr!‘ war die Antwort des Steuermanns. Nachdem wir wieder eine kurze Strecke gefahren waren, rief der Kapitän zum zweitenmal: ,John Maynard!‘ ,Ja, ja, Herr!‘ war wieder die Antwort. Als aber der Kapitän zum drittenmal rief, erhielt er nur noch ein dumpfes, leises ,Ja, ja, Herr!‘ zurück. Schon war die rechte Hand des treuen Steuermanns verbrannt, aber mit seiner linken hielt er noch fest am Steuerrad und steuerte, bis er uns glücklich ans Land gebracht hatte. Daselbst angelangt, sprangen wir in größter Eile aus dem Schiff. Und der treue Steuermann setzte noch seinen Fuß aufs Land. Aber in demselben Moment fiel er zu Boden und war eine Leiche. Das Feuer hatte sein Werk an ihm getan. Aus Liebe und Dankbarkeit haben wir ihm dies Marmorkreuz errichtet mit dieser Inschrift: Dem treuen Steuermann der „Schwalbe“ JOHN MAYNARD von seinen dankbaren Passagieren gewidmet. Er starb für uns! „Er starb für uns!“ Ist das nicht auch die Inschrift des Kreuzes auf Golgatha? Ist Jesus nicht der Treue, der vor der Hitze der Anfechtung, vor dem Feuer der Trübsal und vor den Schrecken des Gerichts nicht zurückwich? Er blieb wie jener Steuermann auf seinem Platz, bis Er uns hindurchgebracht hatte in den sichern Hafen des Friedens. Was wäre aus jenen Schiffspassagieren geworden, hätte der treue Steuermann nicht die Flammen erduldet? Ihr Los wäre die Tiefe gewesen, ein furchtbares Verderben und Umkommen. Und o, was wäre unser Los gewesen, wenn Jesus durch Seinen Tod das Gericht nicht von uns abgewandt hätte? Nichts andres als tiefe Finsternis, ewige Qual und unauslöschliches Feuer. Willst du nicht auch, wie der Greis, dich von diesem Kreuze anziehen lassen? Willst du nicht auch mit der Liebe und Dankbarkeit aufblicken zu diesem Kreuz auf Golgatha und es durch den Heiligen Geist tief in deine Seele legen lassen: „Er starb für mich!“? 32 Georg Steinberger Er ging für uns in den Tod und gab uns so das Leben. Seit dem Sündenfall ist Tod und ewiges Verderben unser Teil; es hat sich vor uns ein gähnender Abgrund ewiger Finsternis aufgetan. So gewiß wir Sünder sind, so gewiß sind wir dem Tode verfallen. Wir haben alle ein trauriges Besitztum mit in die Welt gebracht, das ist die Sünde und mit ihr – der Tod. Und dieses unser trauriges Erbe haben wir, durch unsre eigenen Übertretungen, zu einem ungeheuren Kapital aufgehäuft, haben hinter uns nichts als Tod, vor uns nichts als Tod, in uns nichts als Tod und um uns nichts als Tod. Die Bibel sagt: „Wir sind tot in Sünden und Übertretungen.“ Wer darum nicht von seinen Sünden erlöst ist, sinkt hinunter von Tod zu Tod; denn der Lohn der Sünde ist der Tod. – Kannst du dir vorstellen, lieber Leser, wie furchtbar es wäre, wenn wir sonst nichts wüßten und sonst nichts hätten als dies? Wenn wir den Lebensfürsten nicht kennen würden, der Sein Leben in den Tod gab und uns so das Leben wiederbrachte? – In der Nähe von Cuxhaven ging vor Jahren ein Schiff unter. Sämtliche Insassen, mit Ausnahme zweier Matrosen, sanken in die Tiefe. Diese zwei hatten glücklicherweise ein Brett erreicht, auf dem sie sich zu retten gedachten. Aber gar bald merkten sie, daß das Brett zu leicht sei, sie beide zu tragen. Der ältere von ihnen, der ein Christ war, wandte sich zu dem andern und sprach: „Kamerad, das Brett ist zu leicht! Sage, wer wartet zu Hause auf dich?“ „Eine Frau und fünf Kinder“, war die Antwort. „So nimm das Brett für dich und rette dich“, erwiderte der Alte, „ich habe daheim niemand mehr als zwei Söhne, die in den Wegen Gottes wandeln, und auch ich selbst bin durch meines Heilands Tod vom ewigen Tod errettet.“ Mit diesen Worten überließ er das Brett dem Kameraden und sank in die Tiefe, während der andre glücklich ans Ufer gelangte und heimkam zu den Seinen. Und als die Seinen ihn umringten und ihn fragten: „Wie war es möglich, daß du allein gerettet wurdest?“, sagte er tief bewegt: „Um des Opfers willen, das der Bruder für mich brachte.“ Auch später, so oft man ihn um diese wunderbare Rettung befragte, war seine stete Antwort: „Um des Opfers willen, das der Bruder für mich brachte!“ Nicht wahr, lieber Leser, wir bleiben tief bewegt stehen vor der edlen Tat dieses alten Mannes und fragen: „Ist das möglich?“ Aber sehen wir nicht eine viel größere Liebe und eine viel größere Rettung unter dem Kreuz? Nicht ein Mensch stirbt für den andern, Komm zum Kreuz 33 sondern Gott, nicht ein Freund für den andern, sondern Gottes Sohn für Seine Feinde, Gottes Sohn für dich. – Ein kleines Mädchen, das sehr krank in seinem Bett lag, ließ sich von ihrer Schwester ihr biblisches Geschichtsbuch geben. Sie wendete die Blätter um, bis sie zu dem Bild kam, das Jesus am Kreuz hängend darstellt. Nachdem sie es eine Weile liebevoll angeblickt hatte, hielt sie das Bild zum Vater empor und sagte: „Für dich, Vater!“ Dann zeigte sie es auch der Mutter und sagte: „Für dich!“ Zuletzt drückte sie es an ihr Herz und flüsterte: „Und für mich!“ Und, lieber Leser, auch für dich! Er gab für uns Sein Blut zum Lösegeld. Wir lesen in Hebräer 9, daß Christus erschienen ist vor dem Angesicht Gottes mit Seinem Blut und so für uns eine ewige Erlösung erfunden hat. – Zur Zeit Oliver Cromwells, eines englischen Staatsoberhauptes, wurde ein Mann wegen Rebellion zum Tod verurteilt und sollte am Galgen sterben. Als seine Frau diese Nachricht erfuhr, eilte sie zu Cromwell, fiel ihm zu den Füßen und bat ihn unter heißen Tränen, doch die Strafe aufzuheben. Aber der strenge Mann antwortete ihr: „Er ist ein Rebell gegen den Staat, und die Gerechtigkeit fordert seinen Tod. Morgen abend, wenn die Glocke läutet, kannst du kommen und sehen, wie dein Mann stirbt“ Tief bewegt ging sie von demAngesicht des strengen Richters fort und sann darüber nach, ob es nicht doch einen Ausweg gebe, ihren Mann vom Tode zu erretten. Da kam ihr der Gedanke: „Ich steige auf den Turm und halte den Glockenschlegel fest, denn“, sagte sie, „solange die Glocke nicht geläutet hat, muß mein Mann nicht sterben.“ Sie stieg wirklich hinauf auf den Turm und faßte den Schlegel, so daß statt des Schlegels ihre Hand an die Glockenwand schlug. Nachdem die eine Hand blutig zerschlagen war, nahm sie die andre und hielt so lange den Schlag auf, bis der taubstumme Küster, in dem Gedanken, sein Werk verrichtet zu haben, endlich aufhörte. Mit ihren blutigen, zerschlagenen Händen ging nun die Frau zu Cromwell und sprach: „Mein Herr, die Glocke hat nicht geläutet, mein Mann muß nicht sterben! Siehe, ich habe mit meinen Händen die Schläge aufgehalten!“ Und als sie ihm die blutigen Hände zeigte, trat eine Träne in das Auge Cromwells, und er sagte: „Ja, du hast deines Mannes Schuld gesühnt und sein Leben gerettet! Er ist frei!“ Gerade das, mein Freund, ist die große 34 Georg Steinberger Tat unsres teuren Erlösers. Für uns, die Empörer und Verbrecher, die zum ewigen Tod verurteilt waren, ist er in den Riß getreten, hat mit Seinem Blut unsre Schuld gesühnt und uns losgekauft vom ewigen Gericht. O, daß du dies erkennen und verstehen und ein Todeslohn für Seine Todesarbeit werden wolltest! Aber nicht nur Gottes Vaterliebe und des Sohnes Hingabe sehe ich unter dem Kreuz, sondern auch 3. Wie sündig die Sünde ist Ich sehe unter dem Kreuz, wie unermeßlich der Sünde Schuld, wie furchtbar ihre Strafe, wie verabscheuungswürdig sie in den Augen Gottes sein muß, wenn ihre Sühnung den schmerzlichsten und schmählichsten Tod des heiligen Gottessohnes notwendig machte. Wir können ihre Macht in unserm und in dem Leben andrer täglich erfahren, und zwar nicht nur beim armen Trinker, den der Branntwein unter das Tier entwürdigt hat, nicht nur an den bleichen Gestalten, die ihre Lebenskraft durch Unkeuschheit und Ausschweifung vergeudet haben, deren Auge ohne Glanz, deren Gesichtsausdruck so fahl und gemein ist, sondern auch in den Palästen hinter den seidenen Vorhängen. Ich weiß von einer Dame, die von ihren Angehörigen in eine Anstalt für Nervenleidende gebracht wurde, weil man sie für irrsinnig hielt. Hier lag sie jahrelang auf dem Bett, ohne auch nur einen Augenblick Ruhe zu haben weder für ihre Seele noch für ihren Leib. Eines Tages sagte sie zu der sie pflegenden Krankenschwester: „Ich bin nicht irrsinnig; ich sollte nicht einen Arzt, sondern einen Seelsorger haben, der meine Seele rettet. Sehen Sie, ich bin ein Judas; ich habe meine Seele verkauft und umgebracht. Als ich ein Kind von 16 Jahren war, wußte ich ganz bestimmt, daß ich mich bekehren sollte, und ich fragte meinen Vater: ,Vater, ist es wahr, was in der Bibel steht?‘ Mein Vater antwortete: ,Kind, laß dieses Buch beiseite; es macht die Leute nur verrückt‘, und ich habe ihm gefolgt. Sehen Sie, darum bin ich nun in diesem Hause, nicht weil ich Gottes Wort gelesen, sondern weil ich es verachtet habe. Nur mein Leib liegt auf diesem Bett; meine Seele wird von finsteren Geistern von einem Land zum andern und von Komm zum Kreuz 35 einem Stern zum andern gejagt. O, bringen Sie mir einen Seelsorger, der mir Ruhe schaffen kann für meine Seele!“ An ihr ist das Wort schon hier wahr geworden: „Sie haben keine Ruhe Tag und Nacht“ (Offb. 14,11). Aber nicht nur unter den ausgesprochenen Weltleuten, sondern auch vielfach unter solchen, die als gottesfürchtig gelten, können wir die Macht der Sünde sehen. Ich kannte einen Mann, der regelmäßig alle 14 Tage zur Kirche ging, aber auch regelmäßig jeden Abend in den „Ratskeller.“ Da, am Bierglas, wurde er vom Schlag getroffen. Man trug ihn heim und legte ihn aufs Bett, wo er noch mehrere Tage im heftigen Todeskampf lag. Beständig schlug er mit der Hand, als ob er nach jemand schlagen wollte, und flehte bitterlich zu den Seinen: „Haltet mich! haltet mich! Ich versinke, ich versinke in die Tiefe!“ O, welch eine Macht übt die Sünde aus an den Menschenkindern! Wie oft habe ich schon gewünscht, daß Leute, die so wenig an die Macht der Sünde glauben und meinen, im letzten Augenblick ihres Lebens so schnell mit derselben fertig zu werden, einmal an dem Sterbebett eines solchen Unglücklichen stehen möchten, um zu sehen, wie die Sünde eine Last ist, die ihre Opfer hinunterzieht in ewige Nacht und ewige Qual! Nicht nur aber sehen wir ihre Macht im täglichen Leben, sondern wir können auch ihre Schuld empfinden, wenn wir hinsichtlich ihrer die Gebote Gottes betrachten; denn es steht geschrieben: „Wer einen Buchstaben übertritt, ist das ganze Gesetz schuldig“ (Jak. 2, 10), und: „Verflucht ist jedermann, der nicht bleibt in alledem, was geschrieben steht im Buch des Gesetzes, daß er es tue“ (Gal. 3, 10). Wir können die Größe ihrer Schuld ermessen, wenn wir an die Strafe denken, die der gerechte Gott auf sie gelegt hat. Wenn Gott Seine eigenen Geschöpfe in einen Pfuhl, der mit Feuer und Schwefel brennt, werfen muß, wenn verlorene Seelen in bodenlose Tiefe und ewige Qual versinken müssen – „sie werden von dem Wein des Zornes Gottes trinken, der lauter eingeschenkt ist in Seines Zornes Kelch, und werden mit Feuer und Schwefel gequält werden vor den heiligen Engeln und vor dem Lamm, und der Rauch ihrer 36 Georg Steinberger Qual wird aufsteigen von Ewigkeit zu Ewigkeit, und sie haben keine Ruhe Tag und Nacht“ (Offb. 14, 10-11) – o welch entsetzliches Ding muß dann die Sünde sein! Aber wer wissen will, wie sündig die Sünde ist, nein, ich muß sagen, wer empfinden will, – denn wir können niemals die Tiefen der Sünde ergründen – der trete unter das Kreuz, der wende seinen Blick nach Gethsemane und Golgatha, der sehe hier einen Mann, der so mit Schmerzen ringt, daß Sein ganzes Haupt, Sein Haar und Sein Gewand mit Blut benetzt ist. Die Sünde war es, die also auf Ihm lastet; die Sünde war es, die den Stärksten wie einen Wurm krümmen machte. Ja, wir müssen Christus sehen, wie Sein Schweiß in großen Blutstropfen zur Erde fällt. Wir müssen Ihn anblicken, wie Sein Rücken von den blutigen Geißeln zerrissen wird. Wir müssen Ihm folgen auf Seinem Leidensweg durch Jerusalem. Wir müssen Ihn dahinsinken sehen unter der Last Seines Kreuzes. Wir müssen Ihn betrachten, wie die Nägel durch Seine Hände und durch Seine Füße dringen, und wie Er mit den Qualen des Todes ringt. Wir müssen sehen, wie die Finsternis des Gottverlassenseins Seine Seele umlagert. Wir müssen jenen Schrei ausstoßen hören, bei dem die Erde bebte: „Eli, Eli, lama sabachthani!“ Erst dann und nur dann werden wir imstande sein, zu empfinden, was Sünde ist. Hier, und hier allein werden wir die Buße finden, die sonst nirgends zu finden ist, als unter dem Kreuz zu den Füßen des Meisters. Sinai zerschmettert das Herz, aber Golgatha zerschmilzt es. Und wer so unter dem Kreuz gestanden hat, der kann von der Sünde nicht mehr reden als von einem Fehler, der jedem Menschen mehr oder weniger anhaftet. Folge dem Gekreuzigten von Gethsemane bis nach Golgatha und siehe und höre, was Menschen imstande sind zu tun an dem größten Wohltäter des Menschengeschlechts, und sage mir dann, ob Sünde ein entschuldbarer Fehler sei. Denn nirgends wird der Mensch in seiner Sündenhäßlichkeit so offenbar und tritt seine Empörung gegen Gott so klar zutage, als gerade hier. Nicht genug, daß die Verlorenen ihren Retter von sich gestoßen und an das Kreuz geheftet haben, nein, sie spotten auch noch Seiner Leiden, Seines Durstes, Seines Gebets, ja sogar Seiner Gottheit. Hast du schon gehört, daß man solches jemals dem ruchlosesten Mörder tat, der auf dem Schafott starb? Und doch tat man es Dem, der aus Liebe zu den Komm zum Kreuz 37 Verlorenen von dem Himmel auf die Erde stieg, Dem, der nur Gutes tat, und in dessen Mund kein Betrug erfunden ward. Und nicht die schlechten Juden, wie mir einmal jemand sagte, taten dies, nein, sondern wie der Dichter klagt: „Ich, ich und meine Sünden“, oder wie jener Alte sagte: „Wenn ich Christus gekreuzigt sehe, so fällt mir ein, daß meine Sünden Ihn getötet haben. Ich sehe nicht mehr Pilatus, sondern mich selbst an des Pilatus Stelle, wie ich Christus um der Ehre vor Menschen willen verkaufe. Ich höre nicht das Geschrei der Juden, sondern ich höre meine eigenen Sünden rufen: Kreuzige Ihn! Kreuzige Ihn!‘ Ich sehe keine Nägel von Eisen, sondern meine Missetaten, wie sie Ihn ans Kreuz nageln. Ich sehe keinen Speer, sondern meinen Unglauben, der Seine Seite verwundet; denn ihr, meine Sünden, meine grausamen Sünden, habt Ihn am meisten gemartert. Jede meiner Sünden ward ein Nagel zu diesem Kreuz und mein Unglaube der Speer, der Ihn durchbohrt hat.“ Es gibt Leute, die, wenn man sie auffordert, Buße zu tun und sich zu Gott zu bekehren, einen verwundert anschauen. Sie können gar nicht verstehen, wie man dazu kommen kann, eine solche Aufforderung an sie zu stellen, sind sie sich doch gar nichts Schlechtem bewußt. O, es handelt sich hier gar nicht um Deine Vergangenheit, nicht wie viel oder wie wenig Sünde du getan habest! Die Apostel redeten auch nicht von der Vergangenheit, sondern sagten einfach: „Den habt ihr gekreuzigt, ihr seid schuldig am Tod des Herrn.“ Und bist nicht auch du schuldig? Ist diese Schuld nicht groß genug? O komm unter das Kreuz und siehe, was du verbrochen hast, damit dir Gott Buße gebe zum Leben. Neben diesem sehe ich unter dem Kreuz auch 4. Die Größe der Gnade Ist das Kreuz, das in der Erde, auf der Erde, über der Erde aufgerichtet ist, nicht ein Bild davon, wie allumfassend die Versöhnung durch das Kreuz geworden ist? (Kol. 1,20; 1.Petr. 1,18-19). Wollen uns die ausgebreiteten Arme nicht sagen, daß der Gekreuzigte alle, alle umfassen will? Auch dich! Will nicht das geneigte Haupt dem za38 Georg Steinberger genden Sünder die Zuneigung des Gekreuzigten kundtun? Und das brechende, blutende Herz, ruft es nicht jedem, der kalt vorübereilen will, zu: „Für dich verblutet!“ Denn wir lesen in der Schrift, daß Christi Blut redet, und daß es besser redet als Abels Blut. Abels Blut schrie gen Himmel um Rache; von dem Blut Christi aber sagt der Dichter: Da Christi Blut beständig schreit: Barmherzigkeit, Barmherzigkeit! Abels Blut trieb Kain unstet und flüchtig auf der Erde umher; aber Christi Blut ruft den gottflüchtigen und ruchlosen Sünder wieder zurück zum Herzen Gottes. O preist Seiner Liebe Macht, rühmt Sein Blut! Ja, die Größe der Gnade sehen wir unter dem Kreuz. Wir sehen Maria Magdalena stehen unter dem Kreuz. Wer war sie? Sie war die Frau, von dem Jesus sieben Teufel ausgetrieben hatte. Sie war eine siebenfache Sünderin; aber es war Platz für sie unter dem Kreuz. Ich sehe, daß unter dem Kreuz Platz ist für siebenfache Sünder. Du sprichst vielleicht in deinem Zagen: „Unendlich ist meine Schuld“ – aber auch unendlich ist die Gnade. Du seufzest: „Unendlich sind meine Vergehungen“ – aber auch unermeßlich ist das Verdienst Christi, welches sie alle bedeckt. Und wenn auch deine Sünden höher wären als der Himmel – Christus ist höher als der Himmel, und wenn sie tiefer wären als die Hölle – Christi Versöhnungswerk reicht noch tiefer hinab; denn schon Hiob sagt Kapitel 11,8 von Ihm: „Er ist tiefer als die Hölle.“ Ich predigte einmal an einem Ort über dieses Wort. Da war eine Person in jener Versammlung, die viele Jahre unter den furchtbarsten Gewissensqualen litt und die Tag und Nacht keine Ruhe und keinen Frieden finden konnte. Als aber in jener Stunde der Geist Gottes ihr dies Wort ins Herz legen konnte, ach, da wichen ihre Zweifel und ihre Unruhe wie der Nebel vor der Sonne. Sie verließ als eine, die Frieden gefunden hatte, als eine, die sich an Ihm aufgerichtet hatte, jenen Saal. In ihrer Freude wußte sie lange nichts andres mehr als das eine: „Er ist tiefer als die Hölle.“ Und wenn hie und da der Feind versucht, ihr die Last wieder aufzulegen, so eilt sie unter das Kreuz und schaut auf zu Ihm und sagt mit kindlichem, dankbarem Herzen: „Du bist tiefer als die Hölle.“ Komm zum Kreuz 39 Unter dem Kreuz wird niemand weggestoßen. Wir hören den zum Kreuzestod verurteilten Schächer flehen: „Herr, gedenke mein, wenn Du in Dein Reich kommst!“ Und der Gekreuzigte denkt augenblicklich sein und versichert ihm: „Heute noch wirst du mit Mir im Paradiese sein.“ Und Jesus ist gestern und heute derselbe. Ein Bote des Evangeliums erzählt: „Vor einigen Jahren wurde ich ins Krankenhaus gerufen zu einem kranken Mann, der sich in seinem Bett wie ein Rasender hin und her warf und, während sich seine Finger in den Kalkputz der Wand einkrallten, in einem Ton, der mir durch Mark und Bein fuhr, schrie: ,Ich gehe verloren, ewig verloren‘ – Nachdem ich den Kranken einen Augenblick stillschweigend betrachtet hatte, beugte ich mich über ihn und erkundigte mich freundlich nach seinem Befinden. ,Es geht mir nicht gut, mein Herr‘, antwortete er, ,ich bin sehr krank‘ ,Und wie steht es mit Ihnen in Bezug auf die Ewigkeit?‘ fragte ich weiter. Als ich das Wort Ewigkeit aussprach, war es, als ob ein scharfer Pfeil sein Herz durchbohrt hätte, und mit einem durchdringenden Schrei rief er: ,Ewigkeit! – Ewigkeit! – o dieses schreckliche Wort! – Ich gehe verloren!‘ Nachdem er sich ein wenig beruhigt hatte, sagte ich zu ihm: ,Wenn das wahr ist, mein Freund, daß Sie ein verlorener Sünder sind, so hat Gott mich zu Ihnen gesandt, um Ihnen eine frohe Botschaft zu bringen, um Ihnen in Seinem Namen zu sagen, daß Er, so wahr Er lebt, keinen Gefallen hat an Ihrem Tod, sondern daß Er Sie liebgehabt hat, daß Er Seinen eingeborenen Sohn für Sie dahingab, um Sie von dem ewigen Verderben zu erretten‘ Kaum hatte ich diese Worte gesprochen, als er seine großen Augen verzweiflungsvoll auf mich richtete und in höchster Seelenangst keuchend ausrief: ,Für mich? Gott sollte mich liebhaben? Er sollte mich erretten wollen? Niemals, niemals! Es ist unmöglich! nein, für mich gibt es keine Gnade! Sie kennen mich nicht; ich habe zwei Frauen zu Tode gequält, – ich habe ...‘ Leser, meine Feder sträubt sich, das schreckliche Bekenntnis niederzuschreiben, welches jetzt von seinen Lippen floß. Niemals, nein, niemals habe ich ähnliches vernommen. Es war mir, als hörte ich die hoffnungslosen, verzweifelten Selbstanklagen eines für ewig Verdammten. – Ich besuchte ihn von nun an öfter und verkündigte ihm die frohe Botschaft von der rettenden Liebe Gottes. An einem Freitagabend, nachdem ich klar erkannte, daß seine Tage hienieden gezählt seien, sprach ich 40 Georg Steinberger Komm zum Kreuz sehr ernst mit ihm über sein herannahendes Ende und fragte unter anderem: ,Glauben Sie jetzt, daß der Herr Ihnen alle Ihre Sünden vergeben hat?‘ Einen Augenblick schwieg er. Dann aber schluchzte er unter einem Strom von Tränen: ,Vergeben hat? Vergeben hat? Ach, ich kann es beinahe nicht glauben! Meine Sündenschuld ist zu groß und schwer!‘ Ich nahm meine Bibel zur Hand und las: ,Kommt und laßt uns miteinander rechten, spricht Jahwe, wenn eure Sünden wie Scharlach sind, wie Schnee sollen sie weiß werden‘ (Jes. 1,18). Und das Neue Testament aufschlagend, fuhr ich fort: ,Die Gesunden bedürfen nicht des Arztes, sondern die Kranken. Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder zur Buße‘ (Luk. 5,31-32). ,Der Sohn des Menschen ist gekommen, zu suchen und zu retten, was verloren ist‘ (Luk. 19.10). Nachdem ich dann noch gebetet, verließ ich ihn. Am folgenden Montag besuchte ich ihn wieder. Und dieser Tag war ein Tag unaussprechlicher Freude. Der Jubel einer erretteten und durch Jesus erlösten Seele tönte mir schon entgegen, als ich die Tür zu dem Krankenzimmer öffnete. Nie in meinem Leben bin ich Zeuge eines solchen Schauspiels gewesen. Der Gegensatz zwischen diesem und meinem ersten Besuch war wie der Gegensatz zwischen Himmel und Hölle. Nie habe ich einen Sünder seinen Heiland so preisen und erheben hören wie an diesem Tag. Er ergriff meine beiden Hände und bedeckte sie mit unzähligen Küssen, während die Tränen der Freude unaufhaltsam die Wangen herabströmten. Dann pries er wieder aufs neue mit den zärtlichsten Worten den teuren Heiland als seinen Erretter und Erlöser, und so ging er hinüber in die Räume ewiger Ruhe und ungestörten Friedens.“ Unter dem Kreuz sehen wir, daß, wo die Sünde überströmend geworden, die Gnade noch überschwänglicher ist (Röm. 5,20). Ein Missionar predigte einst über die sühnende und reinigende Kraft des Blutes Christi. Nachdem die Predigt zu Ende war, trat aus den Reihen seiner Zuhörer ein Mann zu ihm, der ihn mit ängstlichen Augen ansah und mit zitternder Stimme sagte: „Massa, darf ich dich etwas fragen?“ Und auf das freundliche „Ja“ des Missionars sprach er mit halberstickter Stimme, während er die Augen niederschlug: „Reicht Jesu Blut auch hin, eine Mordtat zu sühnen?“ Durch die Antwort des Missionars sichtlich erleichtert, aber doch noch nicht befriedigt, fuhr er fort zu fragen: „Reicht Jesu Blut auch hin, zwei Mordtaten zu süh41 nen?“ „Auch zwei Mordtaten sühnt Jesu Blut“, antwortete der Missionar. „Ach“, sprach der Arme weiter, „entschuldige, noch einmal muß ich dich fragen: Reicht Jesu Blut auch hin, drei Mordtaten zu sühnen?“ Nachdem der Missionar einige Minuten schweigend vor sich hingeschaut hatte, sagte er mit innerer Bewegung: „Auch für drei Mordtaten reicht Jesu Blut hin.“ Der Heide, von der Antwort des Missionars tief ergriffen, fuhr nach einigen Augenblicken fort: „Verzeihe, Massa, ich muß noch einmal reden: Reicht Jesu Blut auch hin, zwanzig Mordtaten zu sühnen?“ Nunmehr wurde es dem Missionar sehr schwer, ihm zu antworten. Doch, gestützt auf Gottes Wort, konnte er ihm sagen, daß Jesu Blut auch imstande sei, zwanzig Mordtaten zu sühnen. Unter einem Strom von Tränen bekannte er nun dem Missionar, daß er zwanzig unschuldige Menschen hingemordet habe, daß er zwanzig Mordtaten auf dem Gewissen habe. Nach kurzem Schweigen fragte er noch einmal: „Darf ich denn wirklich auf Vergebung und Frieden hoffen? Darf ich denn gewiß von heute an meiner Schuld los sein? Gern will ich mich dem Gericht stellen und den Lohn für meine Taten empfangen, wenn ich nur Ruhe finde für mein Gewissen.“ Nachdem der Missionar ihm noch einmal versichert hatte, daß Jesu Blut völlig hinreiche, seine Schuld zu sühnen, daß ja auch der Schächer, der den Kreuzestod verdient habe, mit Jesus ins Paradies gegangen sei, konnte er dies fassen und glauben und fand Frieden in Jesu Blut. Mit glücklichem Herzen ging er nun hin und lieferte sich dem Gericht aus und bekannte seine Schuld. Er wurde zum Tod verurteilt; aber er starb mit vollem Vertrauen auf die sühnende Macht des Blutes Jesu. Das am Kreuz vergossene Blut, und das allein reicht hin, dem Gewissen Ruhe und der Seele Frieden und dem Herzen Trost zu geben. Ein katholischer Priester erzählt: „Ich hatte einst als Gefängnisgeistlicher die Aufgabe, einen Mörder auf seinen Gang zum Schafott vorzubereiten. Aber das war für mich nicht leicht. Denn als der Mann sein Todesurteil vernommen hatte, brach er zusammen. Eine furchtbare Seelenangst bemächtigte sich seiner. Ich suchte ihn zu trösten und aufzurichten und der Vergebung zu vergewissern, indem ich ihm alle die durch die Kirche mir zur Verfügung stehenden Gnadenmittel zuteil werden ließ. Aber alles war vergeblich. Er konnte keinen Trost und keine Hoffnung fassen und hatte auf alle meine Bemü42 Georg Steinberger hungen nur immer die Frage: ,Haben Sie nicht noch etwas andres?‘ Ich hatte in Wahrheit nichts andres und kam dadurch in große innere Not. Es schien, als ob sich die Seelenangst und Trostlosigkeit des Verurteilten auch auf mich legen wollte. In dieser Not schrie ich zu Gott um einen Ausweg und um ein Mittel, das dem Trostlosen helfen möchte. Als ich nun eines Tages über die Straße ging, sah ich im Straßenkot ein zerrissenes Blättchen, auf dem die Aufschrift zu lesen war: ,Das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes, macht uns rein von aller Sünde‘ Wie ein Blitz durchfuhr mich der Gedanke: Das ist das ,Etwas‘, was mein Pflegling im Gefängnis sucht. Ich hob das Blatt auf, eilte damit ins Gefängnis und sagte ihm: ,Hier habe ich noch etwas!‘ Und während ich ihm diesen Spruch vorlas, rief er mit bewegter Stimme: ,Das ist es! Das ist es!‘ Ich durfte ihm von nun an nichts andres mehr sagen als diesen Vers. Und als wir auf dem Weg zum Schafott waren, bat er mich, ihm nichts andres zu sagen als diese Worte: ,Das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes, macht uns rein von aller Sünde.‘“ Wer bist du, lieber Leser? Bist du eine von den beladenen, zagenden Seelen? Ich bitte dich, komm unter das Kreuz und sieh auf zu dem blutigen Mann! Sieh, wie Er sterbend Seine Hände ausbreitet nach dir! Sieh, wie Ihm Sein Herz bricht um dich! O ich zweifle nicht daran, wenn du so unter dem Kreuz stehst, wenn du Ihn so betrachtest, daß in dir der Glaube und das felsenfeste Vertrauen aufgeht wie die alle Nebel verscheuchende Sonne, und du mit voller Glaubenszuversicht ausrufst: O, ich kann auf Ihn vertrauen. Er ist meines vollen Vertrauens wert! Ja, wenn ich hundert Seelen hätte, ich könnte mit allen auf ihn trauen. Denn solch ein Heiland „kann selig machen aufs völligste, die durch Ihn zu Gott kommen“ (Hebr. 7,25). Noch eins sehe ich unter dem Kreuz, nämlich 5. Wie furchtbar es ist, im Angesicht des Kreuzes in seinen Sünden zu beharren und verlorenzugehen wie der eine Schächer. Beide hatten vielleicht miteinander geraubt und gemordet. Beide kamen miteinander ins Gefängnis. Beide wurden miteinander verurteilt zum Kreuzestod. Beide kamen auch miteinander ans Kreuz. Beiden war hier das Heil gleich nahe. – Da war Komm zum Kreuz 43 kein Unterschied! Aber welch ein Unterschied nun! Angesichts des Gekreuzigten tut der eine Buße und sucht eilend Rettung und findet sie, während der andere nicht fertig zur Buße ist und in seiner Verstockung lästert und in seinen Sünden verharrt und so verlorengeht. Kein Unterschied im Leben! Aber welch ein Unterschied im Sterben: Der eine gerettet, der andre verloren! Der eine geht ins Paradies, der andre in die Hölle! Der eine steigt mit Christus auf zu Seinem Vater, um mit den Cherubim und Seraphim den dreimal Heiligen anzubeten und Ihm Lob darzubringen und mit den Seligen das Lamm und Sein Blut zu rühmen; der andre steigt hinab zu dem Fürsten der Finsternis und des Todes, zu dem Menschenmörder, wo er mit Heulen und Zähneknirschen und höllischem Spott empfangen wird, und wo er mit den Feigen und Ungläubigen und mit Greuelbefleckten und Mördern und Hurern und Zauberern und Götzendienern und allen Lügnern seinen Teil hat im Pfuhl, der mit Feuer und Schwefel brennt (Offb. 21,8). O welch ein Unterschied! Man erzählt, daß auf dem Kirchhof in Venedig zwei Grabsteine nebeneinander stehen, die in Form und Aufschrift einander ganz ähnlich sind, sich aber doch durch einen Buchstaben in der Aufschrift unterscheiden. Auf dem einen steht geschrieben: „Vergeben!“ Hier ruht die Hülle einer Seele, die mit der Gewißheit in jene Welt gegangen ist, und die mit der frohen Hoffnung auferstehen wird: „Vergeben!“ Auf dem andern Stein ist dasselbe, nur um einen Buchstaben verlängerte Wort zu lesen: „Vergebens!“ Hier wartet der Leib eines Menschen der Auferstehung entgegen, der mit dem Schrei der Verzweiflung diese Erde verlassen hat, und mit dem Schrei am Jüngsten Tag auferstehen wird: „Vergebens!“ Tausende, ja Millionen sehen wir in unsrer Christenheit leben und sterben, über deren Leben und Sterben die furchtbaren Worte geschrieben stehen: „Vergebens, vergebens!“ Teurer Leser, was steht über deiner Vergangenheit geschrieben und was kann man dir einmal auf den Grabstein schreiben? Vergeben? oder vergebens? Vergebens, daß Jesus für dich starb – vergebens, daß dich Gott so manchmal warnte, strafte, segnete und dich mit Liebe und Zucht durch Seinen Vaterzug zum Kreuz ziehen wollte – vergebens, daß dir Gott eine betende Mutter, eine betende Frau gegeben hat, die ohne Unterlaß um deine Bekehrung flehte? O was für eine 44 Georg Steinberger Hölle muß der haben, der alle diese Gaben verachtet, der den Sohn Gottes mit Füßen getreten, der das Blut Jesu unrein geachtet, durch welches er erkauft ist, der den Geist der Gnade geschmäht, und der sich durch ein betendes Herz hindurch einen Weg in die Hölle bahnte! Wahrlich, er versinkt in die tiefsten Tiefen! Es gibt Grade in der Qual der Hölle; aber der höchste Grad wird für den aufbewahrt, sagt ein Gottesmann, der über die Gebete seiner Mutter in die Verdammnis springt. Man hat mir schon oft gesagt: Warum gehen Sie nicht zu den Heiden, um dort zu missionieren? Meine Antwort ist gewöhnlich die: „Wenn ihr mir sagen könnt, daß ein unbekehrter Heide schlimmer daran ist, als ein unbekehrter Christ, der im Angesicht des Kreuzes sündigt und verlorengeht, dann gehe ich augenblicklich zu den Heiden. Unsre Christen gehen im Angesicht des Kreuzes verloren, die Heiden nicht. Für sie kann sich noch eine Tür auftun aus dem Totenreich, für die Christen nicht!“ Willst du im Angesicht des Kreuzes in deinen Sünden beharren und verlorengehen? Wäre es nicht besser, du stürbest wie ein Verbrecher im Kerker oder wie ein Tier im Graben, als daß du in deinen Sünden stirbst? Denn deine Sünden werden nicht, wie die Schulden eines Verbrechers, mit dem Tod ausgetilgt, nein, sie gehen mit dir vor das Gericht, um dort deine Ankläger zu werden; sie gehen sogar mit dir zur Hölle, um dort deine Peiniger zu sein. Willst du nicht Erbarmen mit dir haben? Würde es dir nicht das Herz zerreißen, wenn du eine Menge armer Geschöpfe sich abmühen und abarbeiten sähest, um Holz zu ihren eigenen Scheiterhaufen zusammenzuschleppen? Das aber ist die Arbeit der Knechte der Sünde. Sie tragen Holz zusammen zu dem Feuer, das sie verzehren soll, und gießen Öl in die Flammen, die sie brennen sollen. – Christ, willst du ein Feuerbrand für die Hölle werden? Vermagst du bei der ewigen Glut zu wohnen, wo du wie ein glühendes Eisen im Ofen sein wirst, wo dein Leib und deine Seele von den brennenden Racheflammen Gottes ergriffen werden wie Eisen im heißen Schmelzofen? Wie wird dir sein, wenn du fühlen mußt, was du jetzt liest? Darum, was verziehst du, zu Dem zu kommen, der deine Seele zu erretten vermag von den Tiefen der Hölle? Was hält dich zurück vom Glauben an den Gekreuzigten? Was zögerst du mit deiner Hingabe an Komm zum Kreuz 45 den Herrn, der dich mit Blut erkauft hat? Treffe heute, treffe jetzt deine Entscheidung! An dem Kreuz kommt man nicht vorüber, ohne sich zu entscheiden, weil jeder mit dem Kreuz im Zusammenhang ist, weil jeder schuldig ist am Tod des Gekreuzigten. Du wartest mit deiner Entscheidung, aber wisse: Keine Entscheidung ist auch eine Entscheidung. Kürzlich fragte ich einen jungen Mann, der jahrelang das Wort vom Kreuz gehört hat: „Haben Sie Vergebung der Sünden?“ Er sagte mir: „Ich kann nicht glauben.“ Ich sagte ihm: „Sie müssen die Wahrheit sagen. Ich kann nicht glauben, ist eine Lüge; denn kein Mensch kann einen Tag existieren, ohne zu glauben. Man kann nicht essen ohne Glauben, nicht auf der Eisenbahn fahren ohne Glauben, keinen Brief an einen entfernten Freund schreiben ohne Glauben. Wenn Sie die Wahrheit reden wollen, müssen Sie sagen: Ich kann Gott nicht glauben. Ich kann allen glauben, nur Gott nicht.“ Er sah nun ein, wie schändlich es sei, allen zu glauben, nur Gott nicht; aber zu gleicher Zeit hatte er ein neues Wort und sagte: „Ich kann mich nicht entschließen.“ „So“, sagte ich, „Sie können sich nicht für Gott entschließen? Denken Sie sich, ein Mensch hätte sich so schwer an Ihnen verschuldet, daß er, falls Sie ihn zur Anzeige bringen würden, viele Jahre ins Gefängnis müßte. Aber weil Sie sein Unglück nicht wollten, gingen Sie hin, ihm zu sagen: Freund, hier ist meine Hand, ich will dir alles vergeben; der Schuldige aber würde beide Hände in seiner Tasche lassen und sagen: Ich kann mich nicht entschließen. Was würden Sie von diesem Mann denken? Sehen Sie, dieser Mann sind Sie. Gott steht vor Ihnen und bietet Ihnen Seine Hand zur Versöhnung an, aber Sie sagen: „Ich kann mich nicht entschließen.“ – Leser, bist du einer von denen, die Gott nicht glauben und die sich nicht für Gott entschließen können, die an der ausgestreckten Versöhnungshand kalt vorübergehen? Andre sagen: „Ich könnte mich wohl für Gott entschließen, wenn ich genug Glauben hätte.“ So kam einmal ein Jüngling zu mir und sagte: „Ich wollte mich auch gern bekehren, aber ich habe so einen schwachen Glauben.“ Ich antwortete ihm: „Lieber Jüngling, glaube mit dem Glauben, den du hast, wenn er auch noch schwach ist. Man kann ja auch mit einer zitternden Hand eine goldene Gabe empfangen.“ Er streckte seine schwache, zitternde Glaubenshand aus und empfing aus Jesu Hand die Vergebung der Sünden. Es kam bei ihm 46 Georg Steinberger nicht auf den großen Glauben an, sondern auf den großen Heiland. Noch andre sagen: „O ich wollte gern meine Sünden loswerden, wenn ich nur wüßte, wie ich es machen sollte.“ Ich fragte einen katholischen jungen Mann, ob er auch Sünden habe. „Ja“, war seine Antwort. Ich fragte weiter: „Was machen Sie denn mit Ihren Sünden?“ Schnell war seine Antwort: „Ich bringe sie dem Priester.“ Weiter fragte ich: „Was macht denn der Priester damit?“ „Der bittet sie ab“, war seine Antwort. „Ja“, sagte ich, „kann der das?“, worauf er sogleich erwiderte: „Wir haben zwei Priester in unserm Dorf.“ Ich fragte ihn noch einmal: „Glauben Sie denn, daß diese zwei Priester Ihre Sünden abbitten können?“ „Fest konnte ich es noch nie glauben“, war seine Entgegnung. „Ach“, sagte ich, „ich will Ihnen aus der Bibel sagen, wie Sie Ihre Sünden loswerden können. Wir lesen in Jesaja 53, daß Gott unser aller Sünden auf Seinen Sohn geworfen hat, und zwar schon vor 1900 Jahren am Kreuz. Machen Sie jetzt mit Ihren Sünden, was Gott damit gemacht hat. Nicht die Hände der Priester, sondern die Schultern Jesu sind der Platz, den Gott unsern Sünden gegeben hat. Nicht der Priester, sondern Gott kann Sünde vergeben. In Kolosser 2 lesen wir, daß Gott uns die Vergebung der Sünden anbietet als ein Geschenk, und ein Geschenk kann man nur umsonst annehmen und wird unser eigen, sobald wir ,danke‘ gesagt haben.“ Oder bist du einer von denen, welchen der Gekreuzigte eine Torheit ist? Bist du einer von denen, die nicht unter dem Kreuz, sondern über dem Kreuz stehen? O laß nur die Stunde kommen, wo alles real und wahr vor deine Seele tritt, die Stunde, wo du den großen Schritt aus der Zeit in die Ewigkeit machen mußt, die Stunde, wo dir alles unter den Händen zerrinnt und wo deine Liebsten von dir fliehen und du allein übrigbleibst! Was ist dann dein Halt? Was bleibt dir, wenn du den Glauben an den Gekreuzigten nicht hast? Ein vom Schlafpulver des Unglaubens betäubtes Gewissen, das im Angesicht des Todes seine Rechte nur um so geltender macht, eine traurige Hoffnungslosigkeit und finstere Verzweiflung imAngesicht der Ewigkeit. Ohne Christus, der für unsre Sünden starb, und nachdem Er gestorben, wieder auferstanden ist, hat der Glaube keinen Halt, das Gewissen keine Ruhe, die Hoffnung keine Fernsicht, und der Mensch kennt weder sich noch Gott. Ist Trost, ist Kraft, ist Gewißheit, ist Komm zum Kreuz 47 Wahrheit in solcher Religion? Nein! Und wie arm, unsicher und unwissend solche Leute sind, denen das Kreuz eine Torheit ist, beweist folgender Fall, der ein Beispiel von Tausenden ist. Der bekannte Dr. Fletcher wurde einst an das Sterbebett eines Ungläubigen gerufen. Fletcher fragte: „#un sagen Sie mir doch, was Sie von Jesus Christus halten?“ „Ei“, erwiderte er, „ich glaube ja, daß solch ein Mann gelebt hat, und ich halte Ihn auch für einen sehr guten und wahrhaftigen Menschen; das ist aber auch alles.“ – „Dann glauben Sie also, daß Jesus Christus ein wahrhaft guter Mensch war. Nun, meinen Sie denn, daß ein guter Mensch andre betrügen möchte, oder daß ein wahrheitsliebender Mensch eine Sprache führen möchte, durch die andre irregeleitet werden, und zwar gerade in den allerwichtigsten Lebensfragen?“ – „Das natürlich nicht“, erwiderte der Ungläubige. Da sagte Dr. Fletcher: „Ja, wenn Er also ein guter Mensch war, wie Sie zugeben, wie stimmt denn das damit, daß Er sagte: ,Ich und der Vater sind eins‘ (Joh. 10,30)? Und als sie Steine aufhoben, um Ihn zu töten, da widerrief Er es dennoch nicht, sondern behauptete auch ferner Seine Gottheit, und Er sagte: ,Meine Schafe hören Meine Stimme, und sie folgen Mir, und Ich gebe ihnen das ewige Leben‘ (Joh. 10,27-28). Könnte ein Mensch oder auch ein Engel, ja der höchste Engel, so reden?“ – „Halten Sie ein!“ rief der sterbende Mann mit erregter Stimme, „halten Sie ein; so habe ich es noch nie betrachtet. Es geht mir ein ganz neues Licht auf; sagen Sie nichts weiter! Ich muß erst einmal darüber nachdenken.“ Dann hielt er seine Hand in die Höhe, als fürchtete er, selbst ein Hauch könnte ihm das neue Licht, das in seiner finsteren Seele dämmerte, wieder verdunkeln; sein Gesicht hellte sich auf und zeigte einen unbeschreiblichen Ausdruck, halb Erstaunen, halb Freude. Scharf waren seine Augen auf Dr. Fletcher gerichtet, und nach einer kurzen Pause, während ihm große Tränen seine Augen füllten, rief er: „Herr Fletcher, Sie sind ein Bote der Gnade Gottes, Er hat Sie zu mir geschickt, damit meine Seele gerettet würde! Ja, Christus ist Gott, und Er starb für Sünder, ja, auch für mich!“ O Tag des Heils, o neues Leben! Es müsse mir, vergess’ ich dein, Die Zung’ an meinem Gaumen kleben, 48 Georg Steinberger Mein müsse selbst vergessen sein! Mir ist Erbarmung widerfahren! Gern will ich, was die Wonne spricht, In stillem Herzen still bewahren; Nur Ihm verstumm, o Seele, nicht! Lobsinge, preis, o meine Seele, Rühm Ihn und bete dankvoll an! Vergiß es nicht, mein Herz, erzähle, Was Gottes Gnad’ an dir getan! Verloren war ich, tief verloren, Kalt war ich, tot, ach, tot für Ihn; Nun hat Er selbst mich neugeboren, Nun soll Ihm meine Liebe glühn! O Stunde, da mit offnen Armen Mein Retter mir entgegenkam! O Stunde, da mich Sein Erbarmen In Seine Liebesarme nahm! Da hat die Tröstung seines Mundes Mich bis in jene Welt entzückt Und mir ein Siegel ew’gen Bundes Ins Herz und Leben eingedrückt. Und tränk’ ich auch in vollen Zügen Der Erde Lust, des Lebens Glück: Es kann der Seele nicht genügen; Mir blieb ein leeres Herz zurück. Was wär’ ich ohne Deinen Frieden? Nichts g’nügt dem Herzen, nichts hienieden Und dort im Himmel nichts als Du. An Dich soll sich mein Glaube halten Im Sturm der Welt, im Sonnenschein, Und bis die Lippen mir erkalten, Sollst Du mein Lied, mein Alles sein. Und bin ich dann dem Staub enthoben, Mit aller Himmel Lobgetön Will ich Dich ewig, ewig loben Und Deines Kreuzes Ruhm erhöhn. Komm zum Kreuz 49 Buße, ein himmlisches Geschenk Der Ruf Jesu ist ein Ruf zum Heil. Dieses Heil beginnt mit der Buße. Er sagt: „Ich bin gekommen, die Sünder zur Buße zu rufen!“ Matthäus 9,13, und der Apostel sagt: „Er ist erhöht, zu geben Buße.“ Der „Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, dem Sohne Gottes“, ist: Tut Buße! So lesen wir Markus 1,1-15. In allen vier Evangelien geht Johannes, der Bußprediger, dem Herrn Jesus voraus. Und dies muß eine praktische Erfahrung in der Seele eines jeden sein, zu dem Jesus kommen soll. Die Pharisäer und Jesus konnten aus diesem Grunde nicht zusammenkommen, weil die Pharisäer nicht bei Johannes gewesen waren. Wir lesen in Lukas 7,30: „Sie verachteten Gottes Rat gegen sich selbst.“ Und Gottes Rat war durch Johannes: „Tut Buße!“ Freilich hat auch die Buße ihre Stufen wie jede andere christliche Erfahrung. Die Tiefe der Buße wird zum größten Teil sich richten nach der Tiefe des Blickes, den man hat. Denn die Buße hält immer Schritt mit der geoffenbarten und erkannten Wahrheit. Darum predigte Jesus auf eine tiefere Weise Buße als Johannes, und die Apostel predigten auf eine tiefere Weise Buße, als Jesus es vor Seinem vollbrachten Erlösungswerk tun konnte. Die weiter geoffenbarte Wahrheit forderte auch eine weiter- und tiefergehende Buße. Und so ist es auch heute in der Erfahrung des einzelnen: tiefere Erleuchtung wird immer als erste Frucht tiefere Buße haben. Wir finden im Neuen Testament sieben verschiedene Seiten der Buße: 1. Die Buße, wie Johannes sie predigte, die das Gewissen trifft und aufweckt. 2. Die Buße, wie Jesus sie predigte, die das Herz entdeckt und reinigt. 3. Die Buße, wie die Apostel sie predigten, die das eigene Ich entthront und Christus Raum macht. 4. „Die Buße zu Gott“, die uns Gott näher und näher bringt. 5. Die Buße für andere, wie Jesus und alle Heiligen sie taten. 6. Die Buße, wie der Gläubige sie nach jeder begangenen Sünde tun muß. 50 7. Die Buße, wie der erhöhte Christus sie fordert von den Rückfälligen. Bis zum fünften Punkt ist das Werk der Buße fortschreitend, immer tiefer lotend und höher erhebend, in den letzten zwei Punkten hingegen ist es mehr zurückbringend und wiederherstellend. 1. Die Buße, wie Johannes sie predigte, berührte zuerst mehr den äußeren Kreis des Lebens. Er sprach: „Wer zwei Röcke hat, gebe dem, der keinen hat ... und wer Speise hat, tue auch also ... fordert nicht mehr, als recht ist ... tut niemand Gewalt noch Unrecht“ (Lukas 3). Mit unseren Worten würde das heißen: Bring deine „Kleidung“, deinen „Tisch“, dein „Geschäft“, deinen „Umgang mit Menschen“ in das göttliche Licht und laß die rechtschaffene Frucht deiner Buße darin gesehen werden, daß du diese vier Lebensgebiete nach dem Wohlgefallen Gottes und zum Heil deiner Mitmenschen einrichtest. O wie viele Kinder Gottes von heute haben das nicht getan! Darum erregen sie beständig Anstoß vor der Welt und müssen wie ungezogene Kinder fortwährend zurechtgewiesen werden von ihren Seelsorgern. Es dünkt sie fast lächerlich und scheint ihnen kleinlich, daß die Buße beim Kleiderschrank anfangen soll, und daß die Buße sich bekümmert um das Essen, und daß sie die Rechnungen des Geschäftes prüft und den Umgang mit Menschen ordnet. Und doch, wenn Buße nicht diesen Kreis unseres Lebens göttlich geordnet hat, wird immer Unordnung und Gelegenheit zum Fallen sein, und wir werden nie ein Zeugnis vor der Welt sein können von dem Wort unseres Herrn: „Siehe, Ich mache alles neu!“ Aber Johannes ging noch tiefer. Er wußte, wo bei jedem Menschen der tiefste Schaden sitzt. Die tiefste Not liegt bei allen Menschen in dem durch die Sünde verwundeten und befleckten Gewissen. Hierher legte vor allem Johannes seinen Finger. Wir lesen: „Sie bekannten ihre Sünden“ (Markus 1,5). Und das ist ein Beweis, daß er ihre Sünden aufgedeckt hat. Unser Gewissen ist ein Stück der Gerechtigkeit Gottes, der heilige Rest von dem nach Gottes Bild geschaffenen Menschen, Gottes Autorität in unserem Inneren. Jeder, der zur Ruhe kommen will, muß sich vor Ihm beugen, muß auf Seine Stimme höBuße, ein himmlisches Geschenk 51 ren und auf Seine Forderungen eingehen. Und jeder, der sich bekehrt hat, hat vor allem sein Gewissen zu seinem Rechte kommen zu lassen. Darum richtet sich die Bußpredigt immer zuerst an das Gewissen. Eine Bußpredigt, die nicht das Gewissen als Beihilfe hat, bleibt wirkungslos. Aber wo die Predigt von außen dem gefangenen Gewissen zu seinem Recht und zu seiner Autorität verhilft, da ist der Mensch, diese gewesene Festung Satans, überwunden; das freigemachte Gewissen öffnet von innen die Tore dem außenstehenden Helfer, und so wird der Mensch besiegt, er bricht zusammen. Die Festung kommt sozusagen zwischen zwei Feuer; von außen die Predigt der Buße, von innen der mächtige Widerhall des Gewissens. So stehen zwei Zeugen gegen den Sünder, und er ist überführt. Und so kommt es nun zum Bußetun oder doch zum ersten Schritt in der Buße. Was ist der erste Schritt in der Buße? Vielleicht sagt jemand: Brechen mit der Sünde; denn „nimmer tun“ ist ja die beste Buße. Das ist wahr, wenn etwas anderes vorausgegangen ist, nämlich das Bekennen der Sünde. In Sprüche 28,13 lesen wir: „Wer seine Missetat leugnet, dem wird es nicht gelingen; wer sie aber bekennt und läßt, der wird Barmherzigkeit erlangen.“ Also bekennen und lassen ist der biblische Weg. In vielen Fällen kann man gar nicht brechen mit der Sünde – oder besser gesagt, sie bricht nicht mit uns –, bis wir sie bekannt haben. Kürzlich erzählte mir ein Kaufmann: „Ich war zehn Jahre bekehrt; aber etwas ließ mich des Heils nicht froh werden und brachte immer von Zeit zu Zeit Umdunklungen über mich, und einmal war ich sogar drauf und dran, den Weg der Nachfolge Jesu wieder zu verlassen. Die Ursache war ein Betrug, den ich in der Lehrzeit begangen und nie gutgemacht hatte. Mein Lehrmeister hielt mich für durch und durch aufrichtig, und darum wurde es mir so schwer, ihm zu sagen, daß ich ihn betrogen habe. Aber als die Unruhe ihren Höhepunkt erreicht hatte, entschloß ich mich, um jeden Preis dieses Unrecht zu bekennen und gutzumachen. Und ich wurde von da an meines Heils nicht nur völlig gewiß, sondern erlebte in der Versammlung, die in meinem Hause stattfand, eine Erweckung.“ Dieser Mann hat das Stehlen gehaßt und mit dieser Sünde gebrochen bis aufs äußerste. Aber die Sünde hatte nicht mit ihm gebrochen, bis er sie bekannt hatte. Die Sünde, die wir tun, geht als Lust aus unserem 52 Georg Steinberger Herzen, und wenn wir sie getan haben, geht sie als Last zurück in unser Gewissen. Und wenn sie dann mit Vorsatz zugedeckt wird, so wird sie zum dunklen Punkt, an dem der Feind in schweren Stunden seinen Zweifelshebel ansetzt und alles ins Schwanken bringt und unsere ganze Heilserfahrung in Frage stellt. Die Brüder Josefs hielten viele Jahre mit Bewußtsein eine Lüge aufrecht zwischen sich und ihrem Vater. Sie sagten: „Ein wildes Tier hat Josef zerrissen“ – und sie hatten ihn doch verkauft! Und diese Lüge wurde zum Gespenst für sie, das sie fortwährend verfolgte. Als sie nach langen Jahren nach Ägypten kamen und der unbekannte Landesherr so hart mit ihnen redete und ihnen so tief ins Herz sah, als ob er sie alle kannte, da stand das Gespenst wieder da, und sie sagten: „Das haben wir an unserem Bruder Josef verschuldet“ (1.Mose 42,21). Aber das war nicht genug, daß sie sich untereinander als schuldig bekannten, sie mußten bekennen und Buße tun, und so wich das Gespenst von ihnen. Hiob sagt (Kapitel 42,6): „Ich spreche mich schuldig und tue Buße.“ O wie viele sprechen sich in ihrem Herzen schuldig und verfluchen sich sogar wegen irgendeiner Sünde; sie bekennen sich auch vor Gott als schuldig und sagen Ihm, daß sie die Allerschlechtesten seien; aber Buße tun sie erst dann, wenn sie dies auch den Menschen bekennen, an denen sie gesündigt haben. Denn zu einer ganzen Vergebung gehört auch die Vergebung der Menschen, an denen wir gesündigt haben. Auch in ihrem Herzen muß die Erinnerung an unsere Sünden getilgt werden. Und dies geschieht durch Bekenntnis. In Jesaja 62, 10-11 lesen wir: „Räumt die Steine aus dem Weg ... Siehe, dein Heil kommt!“ Vielleicht hast du neunundneunzig Steine aus dem Wege geräumt; aber einen Stein, den schwersten und größten, gerade den, den du zuerst hättest wegtun sollen, hast du liegenlassen und zugedeckt. Aber das ist nicht rechtschaffene Buße. Und so ist das Heil gehindert, zu dir zu kommen. Als Israel hinüber in das Land der Ruhe geführt wurde, war das erste, daß sie an der Grenze des Landes haltmachten, das Lager aufschlugen und die Beschneidung vornahmen. Und erst nachdem Gott ihnen Zeugnis geben konnte: „Heute habe ich die Schande Ägyptens von euch gewälzt“, konnten sie das Passah halten, das Korn des Landes essen und den Kampf aufnehmen mit den sieben Nationen des Landes (Josua 5). Du hast vielleicht mit der „Schande Ägyptens“ den Buße, ein himmlisches Geschenk 53 heiligen Boden der Nachfolge Jesu betreten; aber du wirst dich nicht des Blutes des Lammes freuen können, nicht Jesus, das Brot des Lebens, genießen können, nicht über deine angeborenen Leidenschaften den Sieg haben, wenn nicht die Sünden, mit denen du dich in deinem früheren Weltleben befleckt hast, von dir gewälzt sind. Und dies geschieht durch Bekenntnis dieser Sünden und durch Gutmachen des begangenen Unrechts. Wenn wir es wagen, zu unseren Sünden zu stehen, werden wir es bald erfahren, daß auch Gott zu Seiner Vergebung steht. (1.Johannes 1,9; Sprüche 28,13; 3.Mose 5,20-26) Das Hindernis, warum viele nicht zum Frieden kommen können, liegt vor allem darin, daß das Böse aus der Vergangenheit oder das Böse, mit dem sie noch gegenwärtig verknüpft sind, nicht herausgegeben und aufgegeben worden ist. 2. Die Buße, wie Jesus sie predigte, traf das Herz. Legte Johannes seinen Finger auf das Gewissen, wo die begangenen Sünden niedergeschrieben sind, so legte Jesus Seinen Finger auf das Herz, in dem die Sünde entsteht und ihre Vorgeschichte sich abspielt. Denn jede Sünde, die nach außen zum Vorschein kommt, hat ihre Vorgeschichte im Herzen gehabt; die eine vielleicht nur eine minutenlange, die andere vielleicht eine jahrelange. Jede Sünde, die wir tun nach außen, haben wir zuvor im Herzen getan. Darum setzte Jesus mit Seiner Predigt hier ein und stellte die unreinen Bewegungen, Absichten und Begierden des Herzens ins Licht und machte sie zur Sünde. Die ganze Bergpredigt ist eine große Bußpredigt mit dem einschneidenden Thema: „Selig sind, die reines Herzens sind!“ Hier konnte man sich nicht mehr entschuldigen mit dem: „Ich habe das nicht getan!“ Jesus ging weiter und sagte: „Wer eine Frau ansieht, ihrer zu begehren, der hat schon die Ehe gebrochen mit ihr in seinem Herzen.“ So drang das lebendige Wort hinein und wurde Richter der Gedanken und der Gesinnung des Herzens. Es deckte das Herz mit seinen unordentlichen Lüsten und Begierden auf. Wir hören oft den Ausdruck: Wir sind nicht tief genug geschieden von der Sünde. Richtiger gesagt hieße es: Wir sind nicht tief genug geschieden von der Lust. Die Lust ist der Mutterleib der Sünde, in 54 Georg Steinberger dem die Sünde empfangen und geboren wird. Jakobus sagt, daß die Lust von innen und Versuchung von außen die Sünde zur Entstehung bringe (Jakobus 1,13-15). Darum sollte im Leben eines jeden Bekehrten „Reinigung von der Sünde“ eine ebenso bestimmte Erfahrung sein wie „Vergebung der Sünde“. Petrus sagt von den Neubekehrten, daß Gott ihre Herzen gereinigt habe durch den Glauben (Apostelgeschichte 15,9). Und von Hiskia lesen wir 2.Chronik 29, daß er im ersten Jahr seiner Regierung im ersten Monat die Türen des Hauses Jahwes öffnete und das ganze Haus reinigte und inwendig im Heiligtum damit anfing. Das sollte die Erfahrung einer jeden bekehrten Seele sein. Gleich im Anfang ihrer Bekehrung, sobald sie ein entlastetes Gewissen hat, sollte sie auch zu erfahren versuchen, was Paulus in Römer 6,14 sagt: „Die Sünde kann nicht herrschen über euch.“ Aber wie viele werden beherrscht von der Sünde, getrieben, geplagt und verzehrt von ihren Leidenschaften und bleiben ihr ganzes Leben darin stecken, ja bleiben nicht einmal mehr auf jenem Boden, auf dem man in Aufrichtigkeit seufzt: „Ich elender Mensch“, sondern bei manchen tritt sogar an die Stelle des Seufzens über die Sünde ein Sich-darüber-hinwegsetzen, ja sogar ein Scherzen über die Sünde! Und so ist nicht einmal mehr Raum in ihnen für die Gerichte Gottes, viel weniger für die Worte Gottes und den Geist Gottes. Alles ist immer wieder gescheitert, besudelt und verschlungen worden durch die grausame Grube des unreinen Herzens (Psalm 40,3). Die Buße hat das Herz nicht erreicht, und so ist es eine Mördergrube geblieben (Matthäus 15,18-20), eine Bilderkammer voll Scheusal und Gräuel (Hesekiel 8,7-12), ein salziger Teich und eine stinkende Lache, wie der Prophet sagt (Hesekiel 47), noch nicht durchflutet von dem Blute und dem Geiste Jesu Christi. Und das macht den Kampf so bitter und den Sieg unmöglich. Der Kampf ist vielfach darum so bitter, weil wir die Sünde, die wir nach außen bekämpfen, noch bis auf einen gewissen Grad lieben und zu gewissen Zeiten ihr noch einen Platz im Herzen geben. So gleicht unser Herz einer Festung, die von außen und von innen hart bedrängt wird: von außen drängt die Versuchung, und von innen drängt die Lust. Und um den Sieg zu haben, müssen wir vor allem mit den inneren Feinden aufräumen, wie Jesus sie aufgezählt hat in der Bergpredigt: Unversöhnlichkeit, Unreinheit, Unlauterkeit, RachBuße, ein himmlisches Geschenk 55 sucht, einseitige Liebe, Geldgier, Sorgen, Richtgeist, Menschengefälligkeit usw. Du sagst: „Ich kann diese Feinde nicht überwinden!“ Das glauben wir. Aber herausgeben kannst du sie ans Licht, damit sie im Licht sterben. Josua sagte zu den Männern, welche die fünf Könige in der Höhle Makkeda bewachten: „Macht auf das Loch der Höhle und bringt die fünf Könige zu mir!“ (Josua 10,22) Und sie gaben sie heraus und setzten ihre Füße auf ihre Hälse, und Josua tötete sie. Hab nur Mut: Jesus, dein himmlischer Josua, wird schon fertig mit deinen Feinden, die du Ihm ausgeliefert hast! Gib sie nur heraus und sprich mit David: „Siehe, Herr, Deine Feinde, siehe, Deine Feinde müssen umkommen!“ (Psalm 92,10) Nicht eingeschlossene Feinde, nicht tributpflichtige Feinde, sondern umgekommene Feinde mußt du haben. Du mußt von deinen Leidenschaften sagen können wie Josaphat von dem großen Heer der Mohren: „Die Menge unserer Feinde ist zu Leichnamen geworden, und keiner ist entronnen.“ Aber viele Kinder Gottes machen es mit der Erlösung, die in Christus uns gegeben ist, wie die Kinder Israel es machten mit dem Lande Kanaan, das Gott ihnen gegeben hatte. Wir lesen in Richter 1 und 2, wo die Einnahme der verschiedenen Landesteile beschrieben ist, daß die Kinder Israel ihre Feinde nicht ausrotteten, sondern bei ihnen wohnten und sie tributpflichtig machten. Und weil Israel seine Feinde nicht ausrottete, hat auch Gott sie nicht ausgerottet (Richter 2,20-23). Und so sind die tributpflichtigen Feinde wieder erstarkt und sind ihnen zum Stachel in ihrer Seite geworden, wie Gott es vorausgesagt hatte. Wenn die rechtschaffene Frucht der Buße, die Johannes forderte, darin bestand, daß die Dinge, die mit dem äußeren Leben zusammenhingen, göttlich geordnet wurden, so bestand die rechtschaffene Frucht der Buße, die Jesus forderte, doch gewiß darin, daß das Innere und Innerste der Menschen, die Ihm folgen wollten, gradlinig und wahr, lauter und durchsichtig würde, wie David es ausdrückte in Psalm 38,10: „Herr, vor Dir sind alle meine Begierden.“ Dann ist auch der Kampf um ein großes leichter. Denn unsere Begierden, mit denen wir, Fühlhörnern gleich, alles um uns her betastet haben, sind nun auf Gott gerichtet. Wir nehmen Licht auf, und Licht geht wieder von uns aus. Vorher nahmen wir Finsternis auf, und Finsternis und Unreinheit mußte wieder aus uns herauskommen. 56 Georg Steinberger Nach 2.Korinther 7,1 gibt es nicht nur eine „Befleckung des Fleisches“, sondern auch eine „Befleckung des Geistes“. Und die Befleckung des Geistes ist der Vollendung der Heiligung ebenso hinderlich wie die Befleckung des Fleisches. Wenn so viele unserer bekehrten Männer keine Lust haben zum Worte Gottes, keine Einsicht in Gottes Wege und keine Freudigkeit zum Gebet, so hat das seinen Grund in den meisten Fällen nicht in der vielen Arbeit und in den Geschäftssorgen, wie etliche sagen, sondern vor allem in der Unreinheit des Herzens. Denn ein unreines Herz hat keinen Geschmack an dem reinen Wort. Hier ist die Hauptursache zu suchen, warum so viele eine verschlossene Bibel haben. Denn nach Römer 12,1-3 geht Übergabe des Leibes und Erleuchtung Hand in Hand. Niemand hat Freudigkeit zum Gebet oder zum Wort oder zum Dienst, der zuvor seinen Geist befleckt hat und sein Herz verunreinigt hat mit Gefühlen des Zornes, des Neides, der Unreinheit usw. – Und wenn unsere Schwestern mit dem Alter wieder zurücksinken ins eigene Wesen hinein, kommt es nicht daher, daß sie sich nicht gereinigt haben von den Befleckungen des Geistes, womit sie sich und andere befleckt haben? Liebe Schwester, sooft du mit deiner Schwester lieblos geredet hast über andere, so oft hast du ihren Geist befleckt, hast du Gift in ihr Inneres gelegt. Mirjam redete zu ihrem Bruder Aaron über Mose und seine Frau, und Gott schlug sie mit Aussatz, um ihr und uns zu zeigen, wie Er das Reden und Richten über andere ansieht. O welch ein schauerliches Gebiet von den Befleckungen des Geistes! Und wer sich da nicht Licht geben läßt und Buße tut, der kann an ein Leben in der Heiligung und an ein Vollenden der Heiligung nicht denken. 3. Die Buße, wie die Apostel sie predigten, traf das „eigene Ich“. Sie blieb nicht stehen bei dem belasteten Gewissen oder bei dem befleckten Herzen, sondern griff die Person an. Und das ist gut begreiflich. Es war mehr Licht gegeben, es waren größere Dinge geschehen: Jesus war gestorben am Kreuz. Das Kreuz gibt die eigentliche Buße. Denn das Kreuz offenbart nicht nur Gottes Liebe in ihrem Höhepunkt, sondern offenbart auch des Menschen Verderben in seinem Tiefpunkt. Erst am Kreuze wurde offenbar, und Buße, ein himmlisches Geschenk 57 Georg Steinberger erst vom Kreuze aus konnte gesagt werden, wie schlecht der Mensch ist. Dort hat der Mensch seine ganze Verderbtheit besiegelt in dem, daß er seine Hand an seinen Gott gelegt hat, Ihn zu verderben. Darum faßte Petrus, als er an Pfingsten predigte, alle Sünden des Volkes zusammen in die Tat: „Den habt ihr durch die Hand der Gesetzlosen ans Kreuz geheftet und umgebracht!“ Er wollte sagen: Seht, welch ein Zeugnis habt ihr euch ausgestellt von eurem Verderben und von eurer Gottfeindschaft, daß ihr Den, der unter euch erwiesen war durch Zeichen und Wunder als ein Mann von Gott und den Gott anerkannt und auferweckt und als Seinen Sohn gesetzt hat zu Seiner Rechten, daß ihr Den gekreuzigt und wie einen Verfluchten beiseite gesetzt habt! Da sie das hörten, drang es ihnen durchs Herz, und sie sprachen: „Was sollen wir tun?“ (Apostelgeschichte 2) Und Petrus antwortete ihnen: „Tut Buße!“ d. h. ändert eure Stellung Jesus gegenüber. Ihr habt Ihn getötet, nun sprecht das Todesurteil über euch selbst; ihr habt den Stab über Ihn gebrochen, nun brecht ihn über euch selbst. Das ist Buße, wie das Kreuz sie predigt und fordert. Darum ist unter dem Kreuz auch kein Unterschied zwischen großen und kleinen Sündern; das Kreuz stellt alle auf einen Boden als Verfluchte. Es kann nach dem sittlichen Urteil der Menschen ein Unterschied sein zwischen Sünder und Sünder; aber unter dem Kreuz fällt dieser Unterschied dahin. Da ist Johannes so schuldig wie der sterbende Schächer. Es handelt sich hier nicht um einige Taten, die der eine getan und der andere nicht getan hat, sondern es handelt sich hier darum, was der Mensch ist. Wenn ein Mensch wissen will, wie schlecht er ist, so muß er nicht in sein Gewissen schauen, auch nicht sein Herz fragen, sondern er muß sich unter das Kreuz stellen und das Kreuz fragen. Und das Kreuz sagt ihm: Du bist so schlecht, daß der Sohn Gottes für dich sterben mußte, sterben mußte eines so schmählichen Todes, weil du ein so schmählicher Sünder bist. So bricht das Kreuz über jeden ohne Ausnahme den Stab und schreibt auf alles, was aus der Natur des Menschen stammt, den Fluch. O wie wenig haben wir das Kreuz verstanden! Wir wollten das Kreuz brauchen, damit es uns helfe; aber das Kreuz will uns nicht helfen, sondern das Kreuz richtet uns in unserer Natur und setzt uns in unserem alten Wesen beiseite. Viele Kinder Gottes, die im Anfang ihrer Bekehrung einen gewissen Frieden und eine teilweise Heilsgewißheit hatten, 58 haben diese wieder verloren, weil sie das Kreuz nicht so brauchten, wie es uns von Gott gegeben ist. Sie suchten beim Kreuz nur Vergebung; sie brachten dorthin nur ihre Sünden. Aber das Kreuz will mehr als unsere Sünden; es will vor allem unser Selbst, unser sündiges Ich, unseren „alten Menschen“. Wer nur Vergebung sucht beim Kreuz, ohne sich selbst dem Kreuze hinzugeben als ein Gerichteter und Mitgekreuzigter, der sucht etwas aus dem Zusammenhang des Kreuzes herauszureißen, was der Heilige Geist nie versiegeln wird in seinem Innern. Und so bleibt es ihm trotz aller Versicherungen von anderen Menschen und trotz aller seiner Glaubensanstrengungen unklar und wird nicht sein Besitz. Es ist ein Unterschied, ob der Mensch in seiner Bekehrung nur zu einzelnen dunklen Punkten kommt in seinem Leben und dafür Vergebung sucht, oder ob er zu sich selbst kommt. Wir lesen von dem verlorenen Sohn: „Als er aber zu sich selber kam ...“ Da wurde es ganz neu mit ihm. Viele sind bei ihrer Bekehrung nicht zu sich selbst gekommen, darum sind sie auch nicht von sich weggekommen. Sie sind wie Kain, der versuchte, Gott sein Eigenes zu bringen und damit sagte, daß noch etwas Gutes in ihm sei, das Gott anerkennen müsse und das imstande sei, Gott zu versöhnen. Er nahm sein eigenes Leben in Schutz und ist ein Vater aller derer geworden, die durch ihre eigenen Anstrengungen und Erfindungen sich Gott angenehm machen wollen und die nicht begreifen können, daß ihr Leben gänzlich verwirkt sein soll. So ist auch die Buße vieler nichts anderes als ein verletztes Gerechtigkeitsgefühl, und ihre Tränen sind nichts anderes als Wirkung ihres gekränkten Selbst. Sie können es sich nicht verzeihen, daß sie sich da und dort so viel vergeben und bloßgestellt haben. Und so beweisen sie, daß sie noch nicht im Lichte des Kreuzes gesehen haben, wer sie sind. Denn wer im Lichte des Kreuzes sich erkannt und Buße getan hat, der sagt mit Paulus: „Hinfort kennen wir niemand nach dem Fleisch“, d. h. wir kennen uns weder in dem, was wir in der „Herrlichkeit des Fleisches“, noch in dem, was wir in der „Schande des Fleisches“ gewesen sind (2.Kor. 5,16). Wir kennen nur noch den am Kreuz neugeschaffenen Menschen (Eph. 2,15). Buße tun heißt nun: über sich selbst den Stab brechen, sich als einen Verfluchten beiseite setzen lassen und den Platz, den unser eignes Ich bis jetzt eingenommen hat, dem Gekreuzigten einräumen, Buße, ein himmlisches Geschenk 59 Ihm den höchsten Platz in unserem Leben geben, wie Gott Ihm den höchsten Platz gegeben hat zu Seiner Rechten. Unser Ich kann nur beiseite gesetzt werden durch das Ich des Gekreuzigten. Nur wenn Christus die Stelle deines Ichs einnehmen darf, wirst du befreit bleiben von deinem Ich. Die Schlange sprach zu den ersten Menschen: „Ihr werdet sein!“ Und in jenem Augenblick, als sie das glaubten, wurde das falsche Ich geboren. Darum mußte Gott mit der Gesetzgebung Sein „Ich bin!“ diesem „Ihr werdet sein!“ entgegensetzen. So war das Gesetz wohl ein Damm gegen diesen falschen Strom, aber keine Erlösung. Erst als Christus kam und Sein Ich ganz aufgeopfert hatte – lies nur Philipper 2, dort siehst du, wie Christus Sein Ich aufgeopfert hat –, hatte Er die Macht und das Recht, Sein aufgeopfertes Ich an die Stelle unseres selbstsüchtigen, rebellischen Ichs zu setzen. Das wäre ohne das Kreuz nicht möglich gewesen. Nun aber liegt in der aufgeopferten Liebe Christi für uns die Kraft, vom Schauplatz abzutreten und Ihm den Platz zu geben. Denn nur Opfer können dem gefallenen Menschen helfen, nur durch Opfer kann er überwunden und erlöst werden von seiner falschen Größe, in die er sich hineingesteigert hat. Durch den Fall ist der Mensch eine falsche Größe geworden, nicht ein „armer Sünder“ – das wird man erst wieder durch die Gnade. Und dieser falschen Größe konnte Gott nicht anders begegnen als durch das Kreuz. Christus, unser Haupt, mußte vor allem deswegen so tief hinuntersteigen, um uns von unserer Höhe herunterzuhelfen, damit es uns möglich würde, wieder hinaufzusteigen (2.Korinther 5,15). Das ist Buße, wie das Kreuz sie wirkt. 4. Buße zu Gott ist die heilige Fortsetzung der Buße, wie das Kreuz sie gibt; sie ist nicht eine einmalige Erfahrung, sondern ein Zustand im Leben eines Gläubigen. Jedes Näherkommen dem Herzen, dem Willen, dem Bilde Gottes hat als Voraussetzung: gründlichere Buße! Denn Buße heißt den Widerstand aufgeben und Gott Raum machen; es heißt sich beugen unter alles, was uns heruntersetzt, was unsere Schande aufdeckt und uns klein macht. Sieben Jahre ließ David sich in den Felsen und Höhlen klein machen, so klein, daß er sagen konnte: „Ich bin ein Wurm und kein Mann!“ (Psalm 22,7) Und dann konnte Gott 60 Georg Steinberger ihn groß machen, so groß, wie die Großen auf Erden sind (2.Samuel 7,9). Weil viele Menschen sich auf diesem Wege nicht klein machen lassen, muß Gott sie zerreißen wie den Ephraim (Hosea 5,14). Weil viele nicht durch Buße sich losmachen von sich selbst! Buße zu Gott ist das innere Selbstgericht, auch da, wo keine bewußten Sünden vorliegen. Die Buße zu Gott schließt in sich, was das Verslein sagt: „Durch Sterben los, vom eignen Wesen los!“ Sie schließt in sich die beständige Verleugnung alles Selbstischen; denn es ist ja Buße zu Gott, eine Hand, die uns herausführt aus uns selbst und uns hineinführt zu Gott. Darum kann Buße zu Gott nicht ein einmaliger Akt sein im Leben des Gläubigen, sondern sie ist eine Linie, die sich durch sein ganzes Leben hinzieht und die er mit jedem Tag verlängert. Vielleicht ist hier eine Ursache zu suchen, warum viele nicht vorwärtskommen auf dem betretenen Weg. Sie haben nicht mehr das, was den Weg reinigt und ebnet: die Buße zu Gott. Wenn Buße Sinnesänderung ist, so kann sie nicht vereinzelt dastehen in unserem Leben; den es gibt bei einem Menschen, der Gott näherkommen will, immer wieder Dinge, in denen er seinen Sinn Gott gegenüber ändern muß. Luther sagte, daß das ganze Leben des Gläubigen eine beständige Buße sein müsse. Ein Kind Gottes, das im Lichte wandelt, wird ebenso im Geiste der Buße zu bleiben suchen, wie es zu bleiben sucht im Geiste des Gebets. Nur so bleibt es bußfertig, d. h. kann sich sogleich beugen über jeden unerlaubten Gedanken, jedes ungöttliche Wort und über jedes Zukurzkommen Gott und Menschen gegenüber. Und so können sich nicht Untreue und Sünden aufhäufen, die das Herz verhärten, den Geist umdunkeln und das Heil ferne rücken. Sein Gebet bleibt: Was noch flüchtig, sammle Du; was noch stolz ist, beuge; was verwirret, bring zur Ruh; was noch hart, erweiche: daß in mir nichts hinfür lebe noch erscheine als mein Freund alleine! Buße, ein himmlisches Geschenk 61 Die Buße zu Gott ist aber nicht nur Beugung über das Ungöttliche und Mangelhafte in uns, sondern sie ist auch zugleich der Schrei nach dem, was noch fehlt. Alle die Ausdrücke in den Psalmen: „Meine Seele hungert“ – „meine Seele dürstet“ – „meine Seele verlangt und sehnt sich“ sind der Ausdruck der Buße zu Gott. Bei der Umkehr zu Gott ist die Seele sozusagen ihres bisherigen Inhalts entleert worden, ist aber nicht gefüllt mit der Gottesfülle, darum der Schrei nach Gott, das Schmachten nach dem neuen Lebensinhalt. Die Seele gleicht einem Glas, das luftleer gemacht worden ist und das nun in Gefahr steht, jeden Augenblick von der umgebenden Luft zerdrückt und zermalmt zu werden. So können wir es verstehen, warum Seelen trotz einer gründlichen Bekehrung – oder gerade weil sie eine gründliche Bekehrung durchgemacht und sich von allem ausgeleert haben – in solche Bedrängnis und Angst kommen können, wie sie es in ihrem unbekehrten Zustand nie erfahren haben. Das Gefäß ist geleert, aber nicht gefüllt. Und die Buße zu Gott ist der Kanal, durch den das geleerte Gefäß allmählich gefüllt wird. Viele haben Buße und Beugung nur an den Anfang ihres christlichen Lebens gelegt; darum haben sie allmählich die Eignung verloren, weitere und tiefere Segnungen zu empfangen. Denn nur solange wir in der Beugung sind, fließt der Segen, wie ja auch zu den tiefsten Stellen das Wasser am schnellsten fließt. Die Buße zu Gott ist auch die heilige Kraft, die in der Beugung Gott fassen und überwinden lernt. Die Psalmen sind voll davon. Es ist uns bekannt, wie viele Psalmen mit tiefer Beugung anfangen und mit einem Triumph enden, mit dem Triumph, Gott auf seine Seite gebracht zu haben, Gott gewonnen zu haben zum Vergeben, zum Helfen usw. Und besonders oft finden wir diese Art Buße in den Geschichten der Männer der Bibel. Jakob sprach: „Ich lasse Dich nicht, Du segnest mich denn!“ Und Gott segnete ihn daselbst (1.Mose 32). Hiskia weinte und flehte zu Gott, und Gott gab seinem Leben fünfzehn Jahre hinzu (Jesaja 38). Ja sogar ein gottloser Ahab vermochte durch seine Buße Gott zu bestimmen, daß das angedrohte Gericht bei seinen Lebzeiten nicht hereinbreche (1.Könige 21,27-29). Hier stellt sich die Buße an die Stelle des Gerichts; sie nimmt das Gericht im voraus auf sich, beugt sich darunter und hebt so das eigentliche Gericht auf. 62 Georg Steinberger Auch das gehört zur Buße zu Gott – und es ist vielleicht der tiefste Punkt in der Buße –, wenn es der Seele klar wird, daß jede Sünde eine Sünde gegen Gott ist, wie David sagt: „An Dir allein habe ich gesündigt!“ (Psalm 51,6) Er hatte ja zuerst an Uria und Bathseba gesündigt; aber nun legt es sich mit überzeugender Gewalt auf ihn: Alle diese Sünden sind Sünden gegen Gott! Erst wenn dies Gefühl durch den Geist in uns geweckt ist, wissen wir, was Haß gegen die Sünde ist. Als Josef versucht wurde, sagte er nicht: Wie sollte ich das tun und das Vertrauen meines Herrn mißbrauchen!, sondern er sagte: „Wie sollte ich ein so großes Übel tun und gegen Gott sündigen!“ Was ihn in jener schweren Stunde bewahrte, war das erschütternde Bewußtsein: Ich würde gegen Gott sündigen! Du wirst es nicht genau nehmen mit der Sünde deinen Brüdern und Schwestern gegenüber, du wirst dein Urteilen und Richten, deine Lieblosigkeit immer wieder entschuldigen mit ihrer Verkehrtheit und Härte, die du bei ihnen gefunden hast, bis es dir im Lichte Gottes klargeworden ist, daß jede Sünde, an Menschen getan, eine Sünde ist gegen Gott. O möge es der Geist in dieser Stunde mit Flammenschrift in dein und in mein Herz schreiben: Jede Sünde ist eine Sünde gegen Gott! 5. Die Buße für andere Soweit wir den göttlichen Sinn in uns aufgenommen und den königlichen Geist empfangen haben, soweit werden auch wir imstande sein, ja gedrungen werden, Buße zu tun für andere. Jesus, der los war von sich, der König war im eigentlichen Sinne, konnte und mußte Sein Leben geben als die eine „große Buße“ für die Menschen. Sein Leben war ja eine „große Buße“ für andere. Er fühlte von Jahr zu Jahr mehr die Sündenlast der Menschheit, die sich von selbst auf Ihn legte und die sich, wenn auch in anderem Sinne, von selbst auf jeden legt in dem Maße, wie er Buße getan hat zu Gott. Darum war Jesus der Mann der Schmerzen. Buße für andere wird ein Hauptcharakterzug sein bei jedem gesegneten Arbeiter und bei jedem Kind Gottes, das ein Segen für andere ist. Was war das Gebet Abrahams für Lot, das einundzwanzig Tage lange Fasten des Daniel und das vierzig Tage lange Stehen des Mose Buße, ein himmlisches Geschenk 63 vor Gott für sein Volk, die Trauer des Nehemia über die zerfallene Mauer und der Seelenschmerz des Esra über den Abfall seines Volkes – war es etwas anderes als Buße für andere? Wie tief hat sich die kanaanäische Frau gebeugt, um Hilfe für ihre Tochter zu erlangen! Und wie tief muß sich Monika, die Mutter Augustins, gebeugt haben vor Gott für ihren verlorenen Sohn, wenn der fromme Bischof Ambrosius ihr versprechen konnte: „Der Sohn solcher Gebete geht nicht verloren!“ O wenn der Geist der Buße sich wieder auf die Kinder Gottes legen könnte, wir würden Wunder erfahren in unseren Häusern, in unseren Gemeinden und in der uns umgebenden Welt! Als Jakob Buße getan hatte, gründliche Buße, wie er sie noch nie getan hatte (1.Mose 35), da fiel der Schrecken Gottes auf die umliegenden Völkerstämme. O wenn die Führer der Gemeinden Buße tun könnten, würden auch die Gemeindeglieder Buße tun – und dann auch die Welt! Sicherlich wären alle Kirchen und Kapellen gefüllt, wenn die Prediger dort Buße täten und dann auch Buße predigten. Denn der Mensch hat ein tiefes Bedürfnis nach Buße. Johannes predigte Buße, und es ging zu ihm hinaus ganz Jerusalem und alle umliegenden Länder. Sind nicht in den meisten Fällen die Erweckungen in manchen Gegenden dadurch entstanden, daß einige trauerten über den geistlichen Tod und sich beugten und beteten? Gewöhnlich sind die Erweckungen da entstanden, wo vorher die Lauheit am größten war und wo eine oder einige Seelen waren, die den Schaden Josefs nicht mit ansehen konnten und Buße taten für die Gemeinde. Wollen wir es nicht auch so machen? Statt zu klagen über „dürre Zeiten“ und „harten Boden“, wollen wir lieber Buße tun und es machen wie das Lamm. Wie hat es denn das Lamm gemacht mit dem dürren Boden? Jesaja 53,2 lesen wir, daß Er war unter den Menschen wie eine Wurzel im Erdreich, aber nicht, um darin Sein Leben zu finden, sondern um Sein Leben hineinzulegen. Er legte das von oben empfangene Leben hinein in Seine tote Umgebung und verschlang so den Tod und weckte das Leben auf. Er hat Sein ganzes Leben ausgeschüttet, bis Er in dem dürren Erdreich der Menschheit einen Widerhall von Liebe und Leben empfunden hat. Das heißt: den empfangenen Segen recht gebrauchen. Viele verlieren die empfangenen Segnungen wieder, weil sie diese für sich behalten wollen, statt sie in Opfer umzuset64 Georg Steinberger zen. Nur der Segen bleibt und vermehrt sich, der umgesetzt wird in Opfer. 6. Die Buße, wie der Gläubige sie tun muß nach jeder begangenen Sünde, hat mehr eine wiederherstellende Aufgabe. Sie ist nötig, a) um das gestörte Verhältnis zwischen ihm und seinem Gott wiederherzustellen. Denn jede Sünde bringt eine Störung in unsere Gemeinschaft mit Gott. Und vielleicht rühren die Umdunklungen, in die manche Kinder Gottes immer wieder hineinkommen, vor allem daher, daß sie über die in der letzten Vergangenheit begangenen Sünden nicht Buße getan haben. Die Sünde, die ich begangen habe, muß sofort vor den „Fürsprecher“, Jesus Christus, gebracht werden – und wenn nötig auch vor Menschen. Johannes sagt: „So jemand sündigt, so haben wir einen Fürsprecher bei dem Vater“ (1.Johannes 2,1). Was muß man bei einem weltlichen Fürsprecher tun, der unsere Sache vor Gericht vertreten soll? Man muß ihm vor allem den Hergang der Sache haarklein erzählen. Und gerade so müssen wir es machen bei Jesus, unserem Fürsprecher vor Gottes Thron. Das ist der erste Schritt in der Buße, wie man sie tun muß nach jeder begangenen Sünde. Dann kann Er die Sache unserer Seele führen vor Gott. Denn auf jede Sünde hin, die ein Kind Gottes tut, erhebt der Feind Anklage bei Gott. Er ist der „Verkläger der Brüder“, der die Brüder Tag und Nacht verklagt vor Gott, lesen wir Offenbarung 12,10. Dir mag es zu viel sein, wenn du in der Nacht gesündigt hast, aus deinem Bett aufzustehen und Buße zu tun über deine Sünde; aber dem Feinde ist es nicht zu viel, mitten in der Nacht deine Sünde dort zu melden. Wir sollten es deswegen schon genau nehmen mit der Sünde, weil es der Feind so genau nimmt, und wir sollten deswegen immer bereit sein zur Buße, damit nicht der Feind vor uns unsere Sünde melde dort oben. Tun wir das nicht, so bleibt die Sache einfach unerledigt, vor allem unerledigt in unserem Gewissen. Und diese unvergebenen Sünden, über die wir im Alltagsleben so kurz hinweggegangen sind, werden allmählich zu einer Scheidewand, über die wir nicht mehr hinüberschauen können zu unserem Gott und die ein Bollwerk wird, hinter dem der Feind eine große Macht ausübt. Buße, ein himmlisches Geschenk 65 b) Um nicht nur Vergebung, sondern auch Reinigung von dieser Sünde zu suchen. Gewöhnlich ist die Sünde, die uns immer wieder zu Fall bringt, unsere Sünde, d. h. die Sünde, die uns eigen ist, – denn jeder hat so seine Sünde –, und das sollte uns antreiben, nicht nur Vergebung für sie zu suchen, sondern auch Reinigung von ihr, damit wir sie nicht mehr tun. Denn Johannes sagt: „Wenn wir unsere Sünden bekennen, so ist Er treu und gerecht, daß Er uns unsere Sünden vergibt und reinigt uns von jeder Ungerechtigkeit“ (1.Johannes 1,9). Der Vergebung der Sünde sollte die Reinigung von der Sünde folgen, sonst müssen wir vielleicht schon die nächste Woche wieder mit derselben Sünde kommen und so Jahr für Jahr. Gerade weil immer dieselben Sünden bei uns zum Vorschein kommen, sollte uns das in tiefere Buße bringen und uns erlösungsverlangender machen. Der 130. Psalm, der diesen Zustand beschreibt, beginnt mit den Worten: „Aus den Tiefen rufe ich, Herr, zu Dir!“ Was sind das für Tiefen? Es sind Bußtiefen! O in welche Not kann das eine Seele bringen, wenn dieselbe Sünde immer wiederkehrt! Und wie wir aus dem Zusammenhang und besonders aus den Schlußversen des Psalms merken, brachten den Psalmsänger seine immer wiederkehrenden Sünden in so große Not. Und was sucht er? Nicht nur Vergebung, sondern auch Erlösung. Er sagt: „Bei dem Herrn ist Gnade“, d. h. immer wieder Begnadigung für immer wiederkehrende Sünden, „und viel Erlösung ist bei Ihm!“ Er hat beides gesucht: Vergebung und Erlösung, und er hat beides erfahren, darum ermutigt er zuletzt auch andere und sagt: „Und Er wird Israel erlösen aus allen seinen Sünden.“ Ja, wo eine Seele es mit ihrer Sünde genau genommen und Buße getan hat, bis sie Erlösung von ihr gefunden hat, da gewinnt sie Mut, zu glauben, daß es eine Erlösung gibt aus allen Sünden. Aber auch umgekehrt, wo bei einer Seele immer wieder dieselbe Sünde wiederkehrt und oft sogar noch mit größerer Macht, da liegt die Gefahr nahe, daß eine solche Seele den Kampf zuletzt ganz aufgibt und gleichgültig wird, ja sogar über die Sünde, über die sie einst die bittersten Tränen geweint hat, ohne viel Schmerzen hinweggeht. Darum sagt David nicht vergeblich, als er von seiner Sünde auf so furchtbare Weise überfallen worden war: „Nimm den Geist Deiner Heiligkeit nicht von mir!“ (Psalm 51,13) Gerade nach schweren Sündenfällen, denen jahrelange Kämpfe vorausgegangen sind, zeigt es sich oft, daß 66 Georg Steinberger an die Stelle vorherigen Ernstes sich eine schreckliche Gleichgültigkeit und Empfindungslosigkeit gestellt hat. So ist es zu verstehen, warum Kinder Gottes, die einen tiefen Fall getan haben, so schwer zur Buße zu bringen sind. Sie stehen oft in einem Gefühl, als ob eine zu große Anforderung an sie gestellt worden wäre, als ob es mit ihrer Naturanlage gar nicht anders möglich gewesen wäre, als zu unterliegen. Freilich hat es bei manchen so den Anschein, und wir müssen vorsichtig sein bei unserm Urteil über solche, die erlegen sind, und selber es genauer nehmen mit jeder Regung zur Sünde, damit nicht auch wir fallen. 7. Die Buße, wie der erhöhte Christus sie predigt in den Sendschreiben der Offenbarung Sie gilt den Rückfälligen, den rückfälligen Gemeinden, den rückfälligen Vorstehern, den rückfälligen Gliedern. Christus sagt: „Gedenke, wovon du gefallen bist!“ (Offenbarung 2,5) Das ist Rückfall. Wir fragen gewöhnlich, wenn ein Christ gefallen ist: In was ist er gefallen? Aber Christus geht hier tiefer und sagt: „Gedenke, wovon du gefallen bist!“ O wenn wir das übertragen auf unsere Gemeinden, wie viel Grund hätten wir da, in den Staub zu sinken und Buße zu tun vor Gott und Menschen! Wir halten Bekehrungsversammlungen für Ungläubige; aber wir sollten erst Umkehrversammlungen halten für die Gläubigen. Wir sind auf dem Punkte angekommen, wo wir das Letzte verzehren, was unsere Väter erarbeitet, erbetet und erlitten haben. Und dann!? Was lassen wir dem kommenden Geschlecht? Einen zertretenen Boden! Gewiß das erste Gebet in unserer Fürbitte sollte sein um eine geistliche Aufweckung und Neubelebung unserer Gemeinden. Mr. Morgan, der Nachfolger von Moody, sagte auf einer Predigerkonferenz: „In der Gemeinde fehlt der brennende Eifer, Seelen zu retten. Man wähnt die Zeit dafür vorbei. Die tiefen religiösen Gefühle sind der Gemeinde abhanden gekommen. Deshalb kann sie nicht mehr singen wie ehedem; deshalb weint sie keine Tränen mehr um verlorene Sünder; deshalb fühlt sie nicht den Schmerz, den brennende Liebe zu einer gefallenen Welt erzeugt; deshalb rauscht der Jubelsang nicht mehr durchs Lager. Die Gemeinde ist wunderbar organisiert. Schönere Kapellen haben wir nie gehabt. Wir sind fertig, Buße, ein himmlisches Geschenk 67 eine mächtige Arbeit zu verrichten; aber dabei bleiben wir stehen.“ Daneben gibt es aber doch noch viele Seelen in den Gemeinden, die jahrelang sich schon sehnen nach einer Bewegung von oben, die die Armut in ihren Kreisen erkennen und sich tief darunter beugen und warten, bis der Geist der Buße kommen kann über die Gemeinden, anfangend bei den Vorstehern. Denn den Vorstehern wird es in der Regel am schwersten, Buße zu tun. Darum richtet sich der erhöhte Christus auch immer zuerst an sie und sagt: „So tue nun Buße!“ O wenn einmal die Vorsteher Buße täten, die Gemeinden würden bald folgen, und wenn die Gemeinden Buße täten, so würde die Welt nicht unberührt bleiben. Und gewiß – niemand hat es so nötig, Buße zu tun, wie wir Vorsteher. Laßt uns nur einmal darüber nachdenken, was unsere Gemeinden sein wollen, sein sollen und nicht sind! Hier könnten wir eine endlose Bußliste machen; denn der Schaden der Tochter Zion ist groß. Und daran sind vor allem wir Vorsteher schuld. Der Herr macht in den Sendschreiben die Vorsteher verantwortlich für die Schäden in den Gemeinden. Und das tut Er heute noch. Gewiß, viele geben das zu und haben sich schon lange gefragt: Wie kann das anders werden? Unser Herr sagt: „Tue Buße!“ und: „Tue die ersten Werke!“ Jede Bewegung und Neubelebung unter Gottes Volk hat angefangen mit Beugung. Es hat jemand gesagt: Die Gemeinde könnte eine Erweckung haben, wenn sie nur an ihre Untreue denken wollte, aufrichtig ihre Sünden bekennte. Aber es ist viel leichter für die Christen, leere Wiederholungen auszusprechen und die Verantwortlichkeit für die Verdammnis der Seelen auf Gott zu werfen, als sich zu demütigen, vor der Welt ihren rückfälligen und machtlosen Stand zu bekennen und die Gelübde zu erfüllen, die sie ihrem Gott gemacht haben. Gott will ein treues Volk haben, das Ihm von ganzem Herzen dient. Und wenn Er es hätte, würden bei manchem „Jericho“ die Mauern fallen. O möge der Herr Seinem Volke den Geist des Schuldbewußtseins und der Buße senden! Möge Er ihm die Augen öffnen, daß es sehe, wovon es gefallen ist, damit es Buße tue, bis seine Missetat abgewaschen, seine Untreue vergeben und seine Lippen mit dem lebendigen Feuer berührt werden, das vom Altar Gottes genommen wird! – Zuletzt wendet sich der Herr noch an die Glieder der Gemeinden. Auch ihnen gilt der Bußruf: „Gedenke, wovon du gefallen bist!“ 68 Georg Steinberger Damit ist nicht ein Fall nach außen gemeint in eine bestimmte Sünde, sondern ein Fall im Innern, ein Rückfall im Herzen. Daß die Glut unserer Liebe abgenommen hat, daß unser Gewissen an Zartheit verloren hat, daß wir keine Macht mehr über die Sünde haben, daß unser Eifer für Gott einer kalten Nüchternheit Platz gemacht hat, daß uns der Geist der Freude und der Opferwilligkeit nicht mehr trägt, daß unsere Gemeinschaft mit Gott nicht mehr innig ist – ist das nicht ein Rückfall des Herzens, und haben wir nicht Ursache, uns tief zu beugen? Daß wir uns durch diese Diesseitigkeitsgesinnung so sehr der Welt angepaßt haben, daß uns eine gute Laufbahn, eine angesehene Lebensstellung in der Welt wichtiger ist als das Trachten nach dem Reiche Gottes und nach Seiner Gerechtigkeit – zeigt das nicht, wie weit wir abgekommen sind vom schmalen Weg der Nachfolge Jesu? Daß wir nicht die Kraft haben, gegen den Strom zu schwimmen und außerhalb des Lagers die Schmach Christi zu tragen – ist das nicht ein Zeichen geistlicher Erkrankung und Verarmung? „Gedenke, wovon du gefallen bist!“ Es ist klar: uns fehlt der Geist der Buße. Wir meinen, wir seien reich und hätten gar satt, und wissen nicht, wie arm und leer wir sind! och ein Wort für Bußfertige Laß deine Buße gründlich sein, sage nicht wie Saul: „Ich habe gesündigt – aber ...!“ (1.Samuel 15) Das ist geteilte Buße, wenn man hinter sein Bekenntnis gleich ein „Aber“ setzt. Mach es nicht wie Israel, das zwanzig Jahre hinter Jahwe her wehklagte und doch nicht seine Götzen aufgab (1.Samuel 7). Die Buße ist eine Tat, wie die Sünde eine Tat war. Es heißt nicht: fühlt Buße, sondern tut Buße. Räume nicht neunundneunzig Steine aus dem Wege, während du einen, den größten, liegenlässest. Bekenne zuerst die Sünde, die dir das Bekennen am schwersten macht und die du am unliebsten sagst. Gib nicht das unrechte Gut, das in deiner Hand ist, in die Opferbüchse, das wäre ein räuberisches Brandopfer (Jesaja 61,8), sondern gib es dem, dem es gehört, mit einem „Fünftel“ mehr zurück, so verlangt es die Schrift (3.Mose 5,21-24). Nur wenn die Betreffenden nicht mehr zu finden sind, ist es erlaubt, dieses durch Unrecht in unsere Hand gekommene Gut den Armen zu geben. Daniel sagt zu NeBuße, ein himmlisches Geschenk 69 bukadnezar: „Mach dich los von deiner Ungerechtigkeit durch Barmherzigkeit gegen Arme“ (Daniel 4,24). Sei sehr treu in diesem Stück; denn unrecht Gut an sich zu bringen nennt die Schrift „Untreue begehen an Gott“ (3.Mose 5,21), und stehlen nennt sie: „Sich vergreifen an dem Namen Gottes“ (Sprüche 30,9). Achan vergriff sich an dem Verbannten und brachte sich in den Tod und ganz Israel in den Bann (Josua 7). Fürchte dich nicht vor einer rückhaltlosen Buße in diesem Stück; denn den Aufrichtigen läßt Gott es gelingen, und den Demütigen gibt Gott Gnade. Gott waltet in besonderer Gnade über Bekenntnissen. Freilich gibt es auch Fälle, wo es besser ist, wenn ein Bekenntnis unterbleibt. Wenn jemand willig ist, sich zu demütigen, aber sieht, daß er durch sein Bekennen nicht einen Schaden gutmachen, sondern nur noch einen neuen hinzufügen würde, so darf in solchen Fällen das Bekenntnis unterbleiben. Auf alle Fälle aber muß er diese Sache einer Priesterseele offenbaren, damit es auf diese Weise ans Licht gebracht und gestraft wird. Denn Heimlichkeit ist die Macht der Sünde. Soweit der Geist mit uns zurückgeht, müssen wir alles geradelegen, worauf Er Seinen Finger legt. Dann können wir, wie in Hiob 11,13-19 gesagt ist: „Umschau halten ... und nichts wird uns mehr schrecken.“ Kannst du Umschau halten unter den Menschen, den Häusern, den Werkstätten usw., wo du hindurchgegangen bist, und schreckt dich nichts mehr? Kann im Blick auf deine Vergangenheit von dir gesagt werden wie von Noah: „Und Gott schloß hinter ihm zu!“? O wohl dir, wenn du den Segen eines gereinigten Gewissens genießen darfst! Du gehörst zu den Glücklichsten dieser Erde. Und du wirst es bezeugen, daß Buße ein himmlisches Geschenk ist. 70 Georg Steinberger Der Gnadenstrom Hesekiel 47,1 – 12 Von einem Strom ist hier die Rede, der von der rechten Seite des Tempels herausquillt und mitten durchs Land fließt, und dessen Wasser alles gesund macht, wo es hinkommt. Im 9. Vers wird dieser Strom ein Doppelstrom genannt. In diesen Doppelstrom wurde der Prophet von dem Engel hineingeführt, um erstens selbst seine heilende und belebende Kraft zu erfahren, und zweitens, um den Reichtum der Lebenskraft dieses Stromes dem Volk verkündigen zu können. Es dachte vielleicht manches beim Lesen dieser Verse: O hätten auch wir einen solchen Strom, wie gerne wollte ich hineingehen, um an Geist, Seele und Leib gesund zu werden! Gott sei gepriesen, wir haben auch einen solchen Strom! Er geht aus von dem Stuhl Gottes und des Lammes (Offb. 22,1). Von dem Stuhl des Lammes geht aus wie ein Strom die heilende Kraft Seines Blutes, und von dem Stuhl Gottes geht aus wie ein Strom der Heilige Geist – die Verheißung des Vaters. Und dieser Doppelstrom, den wir um der Einfachheit willen „Gnadenstrom“ nennen wollen, fließt er nicht auch mitten durchs Land? Werden nicht auch heute noch, und gerade heute, Hunderte und Tausende in diesem Strom gesund? Und geht nicht heute der Ruf lauter denn je durch die Lande: „O Seele, ich bitte dich, komm und such’ diesen herrlichen Strom; sein Wasser fließt frei und mächtiglich; o glaub’s, es fließet für dich!“ Wir wollen, um des besseren Verständnisses willen, zuerst ins Auge fassen, was von dem Strom selbst gesagt ist, und dann die vier Stationen, die viermal tausend Ellen, die der Prophet geführt wurde, ein wenig näher betrachten. Ich möchte euer Augenmerk zuerst auf das Wort „Strom“ richten. Wenn die Schrift von der Gnade als von einem Strom redet, so will sie uns damit sagen, daß die Gnade weit über unsere Bedürfnisse hinausreicht. Es gibt viele zagende Kinder Gottes, die immer meinen, 71 die Gnade reiche für sie nicht aus. Ich möchte sie bitten, darauf zu achten, daß Gott von Seiner Gnade redet als von einem Strom. Kannst du einen Strom ausschöpfen? Nein! Und wenn du es könntest, so kannst du doch niemals den Strom der Gnade vertrocknen machen. Nimm Gnade um Gnade aus diesem Strom, und es wird sein, als ob ein Mücklein im Rheinstrom sich satt getrunken hätte. Wir einfachen, ungebildeten Leute tun überhaupt gut, wenn wir uns an die einfachen Ausdrücke der Bibel halten, statt uns durch dogmatische Lehrsätze Klarheit und Gewißheit verschaffen zu wollen. Nichts, was ich über Gnade und Begnadigung las, hat mein Herz so befestigt wie das Wort in 1.Petr. 1,13, wo dieselbe als „angebotene Gnade“ bezeichnet wird. Ebenso lesen wir in Hebr. 6,18, wo von der Hoffnung als von der „angebotenen Hoffnung“ geredet wird. Ich suchte kürzlich die Namen Jesu im Neuen Testament und schrieb mir dieselben in ein Büchlein und fand, was ich nie geglaubt hätte, etwa hundert Namen von Jesus. Wie groß wurde mir da der Heiland! Da merkte ich etwas von der Wahrheit des Wortes in Kol. 1,19: „Es ist das Wohlgefallen Gottes gewesen, daß in Ihm alle Fülle wohnen sollte.“ Der Herr wolle uns ein einfältiges Auge geben, zu sehen die Wunder in Seinem Evangelium, und ein einfältiges Herz, dem Er die Geheimnisse des Himmelreichs offenbaren kann. Er wolle uns Hände geben, die geschickt sind, aus Seiner Fülle zu nehmen Gnade um Gnade, damit wir nicht, wie Hagar, aus Kurzsichtigkeit neben dem Wasserquell beinahe verschmachten. Nach dem Reichtum Seiner Herrlichkeit möchte uns der Vater geben über Bitten und Verstehen; von Seiner Fülle möchte uns Jesus schenken alles, was zum Leben und gottseligen Wandel Not ist. Das zweite, worauf ich eure Aufmerksamkeit lenken möchte, sind die Worte: „Überall, wo dieser Strom hinkommt, soll alles gesund werden.“ Alles gesund! Es seufzt vielleicht manches bei diesem herrlichen Wort und denkt: Ach ja, gesund werden, wie lange schon wünsche und suche ich das! O Seele, ich bitte dich, steige im Glauben hinein in diesen Doppelstrom; geh hinein, so tief, bis der Strom dich ganz umgibt; tauche dich wie Naeman siebenmal in diese heilende Flut, und es wird auch von dir heißen wie von Naeman (2.Kön. 5): „Und sein Fleisch ward wieder erstattet wie das Fleisch eines jungen Knaben, und er ward 72 Georg Steinberger rein.“ Das teure Blut des Lammes Gottes ist das einzige Heilmittel gegen unseren Sündenaussatz. Es ist die Salbe aus Gilead, die auch den tiefsten Schaden heilt (Jer. 8,22); es ist der Born, der alle Sünde und Unreinheit abwäscht (Offb. 7,13-17); es ist der Quell, der unser Gewissen reinigt von den toten Werken (Hebr. 9,14). Wenn ein Mensch versöhnt ist durch das Blut des Lammes, so ist dem Heiligen Geist Bahn gemacht in ein Herz. Nun fängt die Erziehung an. Der Geist, diese himmlische Tinktur, möchte jedes Teilchen unseres Wesens durchdringen, jedes Gebiet unseres Lebens durchheiligen, uns durch und durch gesund machen. Von Natur sind wir so salzige, ungenießbare, trübe, stinkende Teiche und Lachen, voll Schlamm und Ungeziefer. Erst wenn dieser Doppelstrom „Blut und Geist“ uns durchflutet wird dieser Morast weggespült. An die Stelle der Unreinheit tritt Reinheit, an die Stelle der Unheiligkeit tritt Heiligkeit. Mit den Gliedern, mit denen wir früher dem Tode Frucht gebracht, machen wir jetzt das Leben Jesu offenbar. Wie wir früher ein Fluch waren, so sind wir jetzt ein Segen; wie wir früher ein Todesgeruch waren, so sind wir jetzt ein Lebensgeruch. Aber nicht nur Geist und Seele, sondern gewiß hat auch der Leib Anteil an diesem Segen. Der Leib, der ein Tempel des Heiligen Geistes geworden ist, darf bald die göttliche Kraft erfahren, die er aufgenommen hat. Ein weiterer Punkt, der unserer Beachtung wert ist, sind die Worte in Vers 12, wo von den Bäumen an den Ufern dieses Stromes gesagt ist: „Sie bringen alle Monate neue Früchte, denn ihr Wasser fließt aus dem Heiligtum.“ Sie sind fruchtbar! Und warum? Ihr Wasser fließt aus dem Heiligtum. O wie außerordentlich wichtig sind diese Worte! Welchen Blick öffnen sie uns für ein fruchtbares Leben! Frucht, neue Frucht bringen nur die, die ihr Wasser, d. h. ihre Kraft, aus dem Heiligtum haben, die ihre Wurzeln in Jesus haben, die in Jesus sind, die sagen können mit dem Psalmisten: „Alle meine Quellen sind in Dir.“ Frucht ist mehr als Erfolg. In der Frucht ist Leben, das sich fortpflanzt. Neue Frucht bringen will sagen: Immer neue Schönheiten des Bildes Christi sollen an uns offenbar werden; immer weitere Grade in der Gnade sollen an uns zu sehen sein; immer größere Einfalt, Reinigung und Heiligung soll an uns bemerkbar sein. Das kann aber nur der Fall sein, wenn Jesus stündlich und augenDer Gnadenstrom 73 blicklich der Arbeiter in unserer Seele ist; „denn wir werden verklärt in dasselbe Bild als vom Herrn, der der Geist ist“ (2.Kor. 3,18). Jesus in uns, die Hoffnung der Herrlichkeit! Jesus in uns, das Geheimnis des Sieges und der Fruchtbarkeit! Wollen wir, die wir an anderen arbeiten, nicht ein wenig vor diesem Verslein stehen bleiben? Wo sammeln wir, wenn wir leer sind? Wo sind unsere Quellen, aus denen wir schöpfen? Wo bereiten wir die Arznei für die Kranken? Wo suchen wir das Brot für die Hungernden? Im Heiligtum? Aber das Geheimnis der Fruchtbarkeit ist nach diesem Vers nicht sammeln für andere, sondern für sich und geben von dem, was wir für uns aus dem Heiligtum empfangen haben, und was an uns sozusagen reif geworden ist. Der Herr wolle uns in so enge Verbindung mit sich bringen, daß stündlich Seine Kraft durch uns fließen kann und Christus in uns der Gebende wird. Das letzte, was ich von diesem Strom erwähnen möchte – und was zu unserem eigentlichen Thema führt –, ist, daß der Prophet in diesen Strom hineingeführt wurde. Er sollte nicht schöpfen aus dem Strom, noch viel weniger sein Wasser nur versuchen, sondern er sollte hineingehen, und zwar immer tiefer, bis der Strom ihm unergründlich und er von demselben getragen würde. Was will uns das sagen? Es will uns sagen, daß Gnade unser Element werden muss, daß Gnade vor uns, hinter uns, über uns, unter uns sein soll, daß wir in der Gnade leben und weben. Freilich hat das seine Stufen. Es gibt viele Grade in der Gnade. Es gibt im geistlichen Leben sehr viel Wachstum und Reifen. Was ausgewachsen ist, ist darum noch nicht ausgereift. Es gibt, wie wir hier sehen, Stationen; von 1000 zu 1000 Ellen wurde der Prophet geführt. Wir lesen: „Und der Mann ging heraus gegen Morgen und hatte die Meßschnur in seiner Hand, und er maß tausend Ellen und führte mich durchs Wasser, daß mir’s an die Knöchel ging.“ Was heißt das für uns, bis an die Knöchel in den Gnadenstrom gehen? Ich denke, Vergebung der Sünden empfangen. Durch Vergebung sind unsere Füße auf den Weg des Friedens gestellt, sind wir auf den Boden der Gnade getreten. Vergebung der Sünden wäre somit die erste Station auf dem Gnadenweg, der erste Knoten in dem aufsprießenden Halm. Wenn wir einen Weizenhalm betrachten, so finden wir, daß er 74 Georg Steinberger auf gewisse Längen immer wieder einen Knoten angesetzt hat, der dem Halm und der darauf ruhenden vollen Ähre den Halt gibt. Ähnlich ist es im Christenlauf. Es gibt sozusagen Knotenpunkte, wo irgendeine Heilswahrheit sich in uns abklärt und festsetzt und zugleich der Boden wird, auf dem weitere Wahrheiten und Erfahrungen sich gründen. Ein solcher Knoten – und ich möchte sagen der erste – in dem Halm ist die Gewißheit der Vergebung der Sünden, und zwar aller Sünden, das gläubige Erfassen der Versöhnung in Jesu Blut, der Augenblick, wo das, was Jesus am Kreuz vollbracht, uns aufgeht und uns zur unumstößlichen Tatsache wird, so daß man aus tiefster, persönlicher Überzeugung und Gewißheit mit dem Dichter jubeln kann: „So wahr die Sonne am Himmel dort prangt, so wahr hab’ ich Sünder Vergebung erlangt! Bis aufs Schwören kann ich’s wissen, daß der Schuldbrief ist zerrissen!“ Das ist die erste, bestimmte Erfahrung, die wir auf dem Glaubensweg machen müssen. Fehlt uns diese, sind wir hierüber in Unklarheit, so liegt überhaupt alles Weitere für uns im Nebel. Gott kann uns nicht weiterführen, und versuchen wir es selbst oder andere mit uns, so müssen wir nur zu bald erfahren, daß unser ganzes Christentum kein Rückgrat hat. Wir sind nicht aus Wasser und Geist geborene Leute, sondern von Menschen überredete Leute. Der Geist Gottes konnte an uns nicht Seine erste Arbeit tun. Und Seine erste Arbeit ist noch Johannes 16, 8, uns von unserer Sünde zu überzeugen. Hat Er diese Arbeit tun können, so tut Er auch die zweite, nämlich von der Gerechtigkeit in Jesu oder besser von Jesus als unserer Gerechtigkeit uns zu überzeugen. So bekommt man einen Halt, eine göttliche Gewißheit, weil man nicht von Menschen, sondern vom Heiligen Geist überzeugt und versiegelt ist. Und als Frucht dieser Gerechtmachung genießen wir nach Röm. 5,1 den Frieden mit Gott oder nach Hebr. 9,14 den Gewissensfrieden. Aber Vergebung der Sünden ist nur das Eingangstor in das Land des Heils. Viel Land ist noch einzunehmen. Durch die Vergebung der Sünden ist die Scheidewand zwischen uns und unserem Gott hinweggetan. Jesus, der große Hohepriester, hat uns mit Seinem Blut Der Gnadenstrom 75 nicht nur Gott versöhnt, sondern hat uns auch durch dasselbe einen neuen und lebendigen Weg bereitet zum Gnadenthron. Durch Ihn haben wir den Zugang zum Vater, und durch den Geist, der uns gegeben ist, rufen wir: „Abba, lieber Vater!“ So kommen wir in persönlichen Umgang, in persönliche Verbindung mit Gott. Und das ist die zweite Station auf dem Gnadenweg, der zweite Knoten, der sich bildet in dem Halm. Der „Christus für uns“ muss „Christus in uns“ werden. Christus muss in uns eine Gestalt gewinnen; Er muss aus uns widerstrahlen. Aber dies kann nur sein, wenn wir uns Ihm öffnen, wenn wir Seine Strahlen fassen. Dies können wir am besten in der Stille, auf den Knien. Da wird der Anfang gemacht. Wir lesen hier: „Und er maß abermals tausend Ellen und führte mich durchs Wasser, daß mir’s an die Knie ging.“ Was heißt das, bis an die Knie in den Gnadenstrom gehen? Es heißt ganz einfach: Unsere Knie in den Dienst der Gnade stellen, ein Beter werden, ein Mensch werden, der Kleines und Großes, Äußeres und Inneres wie ein Kind mit dem Vater bespricht, der weiß, wohin mit seinen Nöten und Verlegenheiten, der seine Stärke und Erholung auf den Knien sucht, dessen liebster Platz auf den Knien zu Jesu Füßen ist. Auf diese Weise bekommen wir ein persönliches Christentum. Wir müssen lernen, selbst aus den Brunnen des Heils das Wasser des Lebens zu schöpfen, sonst kann es sein, daß wir sehr oft stagniertes Wasser trinken müssen; wir müssen lernen, selbst aus Jesu Fülle zu nehmen Gnade um Gnade, sonst kann es sein, daß wir sehr oft nur karge Teile oder gar Steine statt Brot erhalten; wir müssen in persönlichen Umgang mit Jesus, dem lebendigen Weinstock, treten, so daß Seine Lebenskraft aus Ihm direkt uns zuströmen kann. Und das kann nirgends besser geschehen als auf den Knien. Es sagte jemand: „Das Band, das uns mit Jesus unzertrennlich verbindet, wird auf den Knien geknüpft und gestärkt durch steten Gehorsam.“ Ich lese seit zwei Jahren oft die Bibel auf den Knien, und zwar so, daß ich aus jedem Vers ein Gebet mache. Und das sind meine segensreichsten Stunden. Bin ich müde und ausgeleert, hier finde ich Geist, Kraft und Leben; bin ich matt und hungrig, hier finde ich das lebendige Brot; bin ich elend und dürstend, hier finde ich das lebendige Wasser; bin ich schwach und krank, hier finde ich beides, Wein und 76 Georg Steinberger Milch. Hier fängt das verborgene Leben mit Christus in Gott an; hier ist es, wo man die Kräfte der zukünftigen Welt schmecken darf; hier, wie sonst nirgends, erfährt man, daß Jesus lebt und sich den Seinen naht. Jedes Nervlein darf die Kraft Seiner Gegenwart fühlen und die Erquickung Seiner Nähe genießen. „Ich hab’sel’ge Stunden oft bei Dir, o Herr; aus Dir Kraft empfunden, wenn mein Herz ward schwer!“ Beten ist ein Anrühren Gottes. Die blutflüssige Frau verstand dieses Anrühren. Das Volk drängte und drückte Jesus und empfing nichts; aber die Frau rührte Ihn an und empfing eine Kraft. Haben wir dieses Anrühren Gottes für uns persönlich gelernt, so wird uns der Heilige Geist noch einen Schritt weiterführen und uns auch das Anrühren Gottes für andere lehren. Wir lernen die Stellung einnehmen, die in Offb. 1,6 beschrieben ist, wo es heißt: „Der uns geliebt hat und gewaschen von den Sünden mit Seinem Blut und hat uns zu Königen und Priestern gemacht vor Gott und Seinem Vater.“ Wir lernen verstehen, daß wir in erster Linie die Sache der Menschen vor Gott vertreten sollen und nicht die Sache Gottes vor den Menschen. Wir lernen die Nöte, Verlegenheiten und Fehler anderer in unseren Busen sammeln – nicht in den Kopf, um sie dann bei erster bester Gelegenheit anderen zu erzählen – und auf Händen des Gebets sie Gott zu bringen. Denn die Priester müssen heilig umgehen mit den Unheiligkeiten anderer. Jesus hat diese Priesterstellung in vollkommenster Weise ausgefüllt. Und Er hat uns auch hierin ein Vorbild gelassen. Wir lesen schon in Jes. 53,11 von ihm: „Darum, daß Seine Seele gearbeitet hat“ Jesu Seele hat gearbeitet; des Nachts allein auf den Bergen, in den öden Örtern, wohin Er sich immer wieder zurückzog, in Gethsemane, da hat Seine Seele gearbeitet, da hat Er Gebet und starkes Geschrei mit Tränen geopfert. Gebet ist Seelenarbeit. Und diese Seelenarbeit, diese Arbeit im Kämmerlein, muß jeder öffentlichen Arbeit vorausgehen, wenn sie gesegnet sein soll. Ich muß erst indirekt an einer Sache arbeiten, bevor ich sie direkt in Angriff nehme. Die Der Gnadenstrom 77 fruchtbarsten Arbeiter im Reiche Gottes waren Beter. Am Tage der Offenbarung wird, zur Verwunderung vieler, zu manchem ungekannten und ungenannten Männlein oder Weiblein gesagt werden: „Freund, rücke hinauf!“ Und auf unser Staunen und Fragen werden wir die Antwort erhalten: „Darum, daß Seine Seele gearbeitet hat!“ Ich las von einemArbeiter im Reiche Gottes, der Hunderten eine Ursache zur Bekehrung wurde, trotzdem er nie über die Schwelle seiner Tür kam und nie öffentlich redete. Er war viele Jahre von Gicht gelähmt. Aber seine Seele war nicht gelähmt, und mit dieser arbeitete er. Er betete um Erweckungen, und sie kamen. Niemand wußte, wie das zuging. Aber als der Alte gestorben war, fand man unter seinem Kopfkissen ein Notizbüchlein, das den Leuten das Rätsel löste. Da stand geschrieben: „Von dann bis dann um eine Erweckung gebetet; am soundsovielten eingetroffen.“ Darum, daß seine Seele gearbeitet hatte, durfte er seine Lust sehen und die Fülle haben. Aber es sind noch tausend Ellen vor uns. Der Engel maß abermals tausend Ellen und führte den Propheten in das Wasser, daß es ihm bis an die Lenden ging. Was heißt das, bis an die Lenden in den Gnadenstrom gehen? Es will heißen: Seine Kraft und Fähigkeiten, überhaupt alles, was man ist und hat, in den Dienst der Gnade stellen. Das ist die dritte Station auf dem Gnadenweg, der dritte Knoten in dem Halm. In den Lenden ist der Sitz der Kraft. Als Gott den Jakob verrenken wollte, rührte Er seine Lenden an. Wer seine Kraft in den Dienst des Reiches Gottes gestellt hat, hat sie damit noch nicht in den Dienst der Gnade gestellt. Das wird erst dann der Fall sein, wenn wir mit unserer eigenen Kraft gründlich zuschanden geworden sind. Wir sind wohl schon oft zuschanden geworden; aber wir müssen einmal so zuschanden werden, daß wir alles aus unseren Händen geben, weil wir gründlich davon überzeugt sind, daß nur in Seinen Händen alles wohl gerät und in unseren Händen alles mißrät. Dann können wir Arbeiter, Werkzeuge Gottes werden, weil nicht wir, sondern Gott der Wirkende und Gebende ist, und weil wir mit unserer eigenen Person Gott und den Menschen nicht mehr im Wege stehen. Wir haben schon oft das Lied gesungen: „So nimm denn meine Hände!“ Wollen wir es heute wahr machen und unserem Gott beide 78 Georg Steinberger Hände geben? Wollen wir heute ein ganzes Opfer auf Seinen Altar legen? Nach 5.Mose 33,9 und 10 machen vier Dinge einen fruchtbaren Arbeiter aus: Selbstverleugnung, Gehorsam, Gebet und Hingabe. Wenn ich hier von Arbeitern rede, so meine ich nicht solche allein, die in irgendeiner Reichsgottesarbeit angestellt sind, sondern alle, die Jünger Jesu sein wollen. Jeder Jünger Jesu hat auch eine Jüngeraufgabe. Nach der Schrift sind die Miterben Jesu Christi auch Mitarbeiter Jesu Christi. Aber wir können erst dann Mitarbeiter Jesu Christi werden, wenn Jesus stündlich und augenblicklich der Arbeiter in unserer Seele ist. Und das kann Er nur bei Leuten, die alles ausgeliefert haben, die mit der eigenen Stärke zu Ende gekommen sind. In deren Herzen hat Gott nach Ps. 84,6 gebahnte Wege; in deren Herzen kann Gott nach 2.Kor. 6,16 wohnen und wandeln. Da ist es nicht mehr schwer, ein Arbeiter Gottes zu sein, weil Gott in uns und durch uns arbeitet. Es ist für einen Arbeiter im Reich Gottes sehr wichtig, daß er seine Zusammengehörigkeit mit dem dreieinigen Gott klar erkennt. Die Fruchtbarkeit der Reben beruht auf Verbindung und Reinigung. Wenn wir lesen: „Ich will unter ihnen wohnen und wandeln“, so will das soviel sagen: Gott will durch uns anderen Menschen begegnen – siehe z. B. Philippus und der Kämmerer, Apg. 8,26-29; Petrus und Kornelius, Apg. 10; – Gott will durch uns andere Menschen segnen und sich ihnen mitteilen – siehe z. B. die Händeauflegung: Apg. 14,3; 19,6; 19,11; Jak. 5,14-16; – Gott will durch uns strafend und vergebend sich anderen Menschen offenbaren – siehe z.B. Nathan und David, 2.Sam. 12,1-14. – Die Jünger in eins mit Ihm zu bringen, war die Arbeit Jesu und der erste Grund zur Sendung des Heiligen Geistes. „Daß auch sie in uns eins seien“, war das Gebet Jesu zu Seinem Vater. Wir bilden mit dem Vater und Seinem Sohne Jesus Christus ein Ganzes, haben ein gemeinsames Interesse, nämlich die Rettung und Erlösung der Menschen und die Verdrängung der Finsternis auf dem Erdboden. Das ist jedem Kind Gottes klar, daß es in der Rettung der Menschen ein gemeinsames Ziel mit Gott hat. Aber dieses gemeinsame Ziel bezieht sich nicht nur auf die Rettung der Seelen, sondern auch auf die Befreiung leiblicher Gebrechen. Nicht nur vergebende, sondern auch heilende und rettende Kräfte will Gott durch uns anderen Menschen mitteilen. Freilich hat nicht jeder Baum die Der Gnadenstrom 79 gleiche Frucht, das will sagen, es ist nicht jedermanns Aufgabe, die Hände aufzulegen. – Gott tut nichts unmittelbar, wenn Er es mittelbar, d. h. durch Vermittlung tun kann. Nicht der Weinstock selbst, sondern seine Reben bringen seine Kraft zum Ausdruck. Nicht der Stamm, nicht die Äste, sondern die schwachen Zweiglein geben des Baumes süße Frucht dem Menschen. Wie die Elektrizität einer Leitung bedarf, um sich mitteilen zu können, so bedarf auch die Gotteskraft einer Leitung. – Freilich bleibt Gott in allen Dingen souverän; wir sprechen auch nur von dem gewöhnlichen Weg. – Der Vater hat Seine Kraft durch den Sohn den Menschen mitgeteilt, wie Jesus sagt: „Der Vater, der in Mir ist, tut die Werke“ (Joh. 14,10), und Jesus teilt Seine Kräfte durch Seine Gläubigen mit, wie Er in Joh. 7,38 sagt: „Wer an Mich glaubt, wie die Schrift sagt, von des Leibe werden Ströme des lebendigen Wassers fließen. Das sagte Er aber von dem Geist, welchen empfangen sollten, die an Ihn glauben.“ Nur durch den Heiligen Geist kann sich Jesus uns mitteilen, wie wir aus Eph.3,16 und 17 so klar sehen. Ein Hauptgrund der Ausgießung des Heiligen Geistes war der, daß Jesus selbst sich Seinen Jüngern geben konnte. Und die Aufgabe des Heiligen Geistes ist keine andere, als Jesus uns zu geben. Wir dürfen darum nie den Heiligen Geist an die Stelle des Herrn Jesus setzen oder gar über Ihn, wie dies irrtümlich geschieht. Verstehen wir diese Innewohnung Jesu, und ist sie bei uns zur Tat geworden, dann ist auch die Frage des Bleibens in Jesus und die Frage der Arbeit für Jesus eine gelöste. „Wer in Mir bleibt, der bringt viel Frucht.“ Wie viel stiller, getroster und erwartungsvoller würden wir unsere Arbeit tun, wenn dies bei uns zur Realität geworden wäre! Nicht nur Jesus, sondern auch Paulus nahm diese Stellung ein. Er glaubte an die Realität seiner Arbeit (Röm. 1,13), an die Realität seiner Gebete (Eph. 3,14-20), weil er an die Realität der Innewohnung Gottes glaubte. Doch sind wir nicht fertig. Noch tausend Ellen sind vor uns. „Da maß er noch tausend Ellen, und es ward so tief, daß ich es nicht mehr gründen konnte; denn das Wasser war zu hoch, daß man darüber schwimmen mußte und es nicht gründen konnte.“ 80 Georg Steinberger Da ist die vierte und letzte Station. Nun kommt auf dem Halm die volle, reife Ähre zum Vorschein. Ich kann hier nicht gut weiterreden, weil ich selbst nicht so weit bin. Ich kann nur einige Andeutungen machen, nur einige Ahnungen aussprechen. So tief in den Strom der Gnade gehen, daß man schwimmen muß, wird sagen wollen: Die Gnade muß unser Element werden, in dem wir uns bewegen. Wie das Wasser den Schwimmer umgibt, so wird die Gnade uns umgeben, dann wird wahr geworden sein, was der Dichter sagt: „Gnade, über alle Höhen, Gnade, tiefer als die See. Treuer Gott, nun ist’s geschehen, nun soll’s heißen je und je: Ganz für Dich und nichts für mich.“ Hier vollendet sich die geistliche Reife. Wir wissen, daß ein großer Unterschied ist zwischen geistlichen Gaben und geistlicher Reife. Wir können geistliche Gaben haben, ohne damit auch die geistliche Reife zu haben. Hier ist wohl das Ausreifen der vollen Ähre. Hier ist nicht mehr Gärung, sondern Abklärung und Verklärung. Hier wird alles real, klar, rein, gemessen und taktvoll. Hier hat man gelernt, sich in den Grenzen der Gnade zu bewegen. Hier lebt man das verborgene Leben mit Christus in Gott. Hier ist man völlig in der Liebe. Hier wird in der Schmelze dem Golde der volle Glanz gegeben. Hier fallen die Blätter von der Traube, so daß sie von der Herbstsonne gar durchsüßt und dem Auge des Weingärtners zum Abnehmen sichtbar wird. Hier gibt der Meister durch die zarten Meißelschläge dem Bilde den vollen Ausdruck des Lebens. Hier ist der vollkommene Mensch Gottes zu allem guten Werk vollkommen geschickt. Hier ist Jesus alles in allem geworden. Man kommt hie und da mit solchen Menschen zusammen, in denen sich des Herrn Klarheit mit aufgedecktem Angesicht spiegelt, in deren Worten ein Hauch aus der Ewigkeit liegt, in deren Nähe man sich wohl und frei fühlt, trotzdem uns ihre Gegenwart auch wie ein aufgehobener Finger gilt. Man spürt etwas von der Salbung, diesem Der Gnadenstrom 81 himmlischen Siegel. Sie haben eine sanfte Gewalt, die Herzen gewinnt und Festungen hinweghebt. Man empfindet eine sanfte, liebliche, einfache, erquickende, göttliche Lebenswärme, die die Seele und das Herz heilig durchbebt und durchdringt. Da sieht man mit Augen: Heiligkeit allein ist Seligkeit. Nun, ihr lieben Freunde, bleibt für uns die wichtige Frage: Wo stehe ich? 1. Leider bleiben schon viele auf der ersten Station stehen. Sie werden keine Gnadenmenschen, kein ganzer Halm mit voller Ähre. Sie haben nur die eine Seite der Gnade erfaßt, nämlich die, die unser vergangenes Leben gutmacht; aber die andere Seite der Gnade, die auch unser gegenwärtiges Leben gutmacht, die Gnade, die den ganzen Menschen durchdringt und in die göttlichen Bahnen bringt, kennen sie nicht. Viele machen es wie der König Joas (2.Kön. 13,10-19), der anfing, als es bereits zu spät war (er fragte erst dann nach Elisa, als dieser am Sterben lag), und aufhörte, als es noch viel zu früh war. Statt fünf- oder sechsmal mit seinem Bogen zu schlagen, schlug er nur dreimal. So machen viele hinter die drei Erfahrungen – Vergebung der Sünden, Frieden mit Gott, Hoffnung des ewigen Lebens – einen Punkt. Sie haben genug! Sie lassen die Arme sinken, statt daß sie weiterschlagen würden, bis daß die Syrer, d. h. die Sünde kraftlos gemacht wäre. Darum bleiben sie wie Joas ein Leben lang im Streit und sind beständig die Überwundenen, statt die Überwinder. Ihr Leben ist ein Leben von Fallen und Aufstehen. Solche stehen noch auf eigenen Füßen, und wer auf eigenen Füßen steht, kann jeden Augenblick fallen. Sie sind nur bis an die Knöchel in den Strom gegangen. Das wenigste von ihnen steht in der Gnade. Je tiefer man in den Strom geht, desto geringer ist die Gefahr des Fallens. Und wer so tief hineingegangen, daß er getragen wird, der kann überhaupt nicht fallen. Aber ein Leben von Fallen und Aufstehen ist das Leben in den Kinderschuhen. Man nimmt es einem Kind von ein bis zwei Jahren nicht übel, wenn es am Tag zehnmal fällt; aber wenn es bei einem zehnjährigen oder gar noch älteren vorkommen würde, müßte man da nicht mit Recht sagen: Das ist ein anormales Kind? Sie sind wie Ephraim „ein unweiser Sohn; denn wenn es Zeit ist, tritt er nicht in den Durchbruch der Kinder“ (Hos. 13,13). 82 Georg Steinberger Sie sind gleich den Israeliten, die in elf Tagesreisen von Horeb bis Kades-Barnea zogen, d. h. bis an die Grenze des Landes Kanaan, aber dann wieder umkehrten in die Wüste und in der Wüste starben, also nicht in das Land der Ruhe kamen. Ihr Leben ist ein Wüstenleben, statt ein Leben der Ruhe, des Genusses und des Sieges. Diesen Stehengebliebenen läßt Gott heute sagen: „Ihr seid lang genug an diesem Berg gewesen; wendet euch und zieht hin. Siehe da, Ich habe euch das Land, das da vor euch liegt, gegeben; geht hinein und nehmt es ein“ (5.Mose 1,6-8). Du fragst vielleicht: Wie kann ein Stehengebliebener vorwärtskommen? Durch Gehorsam, durch Gehen der Wege, die im Worte Gottes so klar gezeigt sind. Jesus kann nur denen helfen, die Ihm gehorsam werden (Hebr. 5,9). Warte nicht auf etwas Außerordentliches, sondern gehe sogleich mit deinem Herzen in den völligen Gehorsam ein. Gib Gott dein Ohr; gib Ihm den Willen deines Herzens; gib Ihm deine Hände, so wird Er dich tausend Ellen weiterführen in den Strom der Gnade. 2. Warum viele, die auf dem Wege zur zweiten Station sind, nicht in einen innigen Umgang mit Gott kommen, nicht ein Gebetsleben finden, ist der gleiche Grund wie bei den vorhin erwähnten, nämlich der Ungehorsam. Ihr Herz verdammt sie immer wieder, weil sie ungehorsam waren. Jeder Ungehorsam bringt Mißtrauen gegen Gott ins Herz. Nur gehorsame Kinder sind freudige Kinder, freudig auch im Bitten. Gehorsam fließt aus der Selbstverleugnung. Darum sagt jemand mit Recht: „Gebet und Selbstverleugnung sind zwei unzertrennliche Schwestern. Sowie du eine verlässest, verläßt dich die andere. Sobald eine verloren geht, kostet es auch der anderen das Leben.“ Nur wer in Harmonie mit Gott ist, betet gern. Es kann auch sein, daß der Grund des Zurückbleibens, wie bei den Kolossern, Mangel an Erkenntnis ist. Zwei Dinge sind vor allem nötig, wenn man ein Beter werden will: erstens, daß ich klar erkenne, was Gottes Ziel mit mir ist, und zweitens, daß ich in voller Klarheit darüber bin, wie nahe oder wie ferne ich diesem Ziele in meinem praktischen Leben bin. Wo dies nicht der Fall ist, liegt überhaupt unser ganzes Gebetsleben noch im Nebel. Andere werden darum keine Beter, weil sie von dem seligen Vorrecht der Fürbitte keinen Gebrauch machen. Es sagte mir einmal jeDer Gnadenstrom 83 mand: „Es kommt erst dann ein Zug in mein Gebet, wenn ich mit der Not anderer anfange.“ O wie viele, sonst liebe Kinder Gottes, stehen da noch müßig am Markt. Und der Herr möchte heute gewiß zu manchem sagen: „Gehe auch du hin in den Weinberg!“ Ist auch Fürbitte Arbeit im Weinberg? O ganz gewiß! Du kannst vielleicht nicht öffentlich arbeiten; aber arbeite im Kämmerlein; du arbeitest nicht umsonst (Matth. 6,6). Du kannst vielleicht nicht in den vordersten Reihen kämpfen; aber nimm deinen Platz im Hinterhalt; denn der Hinterhalt, d. h. die Beter, nehmen die Städte ein (Jos. 8; Richt. 20, 26-37). Du kannst vielleicht nicht mit Josua ins Tal gehen und stehen vor Amalek; aber stehe wie Moses vor Gott auf des Hügels Spitze und halte den Stab des Gebets in die Höhe; denn das Aufheben des Stabes entschied den Sieg (2.Mose 17,8-13). Baue nicht wie Lot nur deine Hütte, d. h. lebe nicht dir selbst, sondern baue wie Abraham dem Herrn einen Altar, auf dem geschrieben steht: „Nicht nur für mich selbst zu beten liege ich vor Deinem Thron. Viele wollst Du noch erretten, vielgeliebter Menschensohn.“ 3. Was viele auf dem Wege zur dritten Station aufhält, ist das Hängen am eigenen Leben und die Furcht vor dem Bankrott. Die Hingabe an den Herrn, die ihre Stufen hat, ist umso völliger, je mehr die Seele ihr Elend erkennt. Wir haben an den bankrotten Ägyptern ein treffendes Beispiel hierfür (1.Mose 47,13-25). Da sehen wir, wie stufenweiser Bankrott sie zu stufenweiser Hingabe führte. Im Anfang der Teuerung brachten sie Joseph ihr Geld – das Selbstverständliche, was man sozusagen zum Weggeben hat –; dann, als die Teuerung wuchs, brachten sie ihr Vieh, das war schon mehr; dann ihr Feld, das war noch mehr; und zuletzt ihre eigene Person, das war nun alles. – So weit will es Jesus, der himmlische Joseph, mit uns bringen, daß wir Seine Leibeigenen werden, Menschen, über die Er volles Verfügungsrecht hat. Wenn wir Jakobs Leben mit Aufmerksamkeit betrachten, tritt uns das eine besonders klar vor das Auge, wie sein Leben von Pniel an (1.Mose 32) ein ganz anderes wurde. Von da an war er ein Zeuge; von da an hatte er einen Altar; von da an hatte er Autorität in seinem Hause; von da an verstand er Gott und Seine Offenbarungen, was 84 Georg Steinberger vorher nicht der Fall war. Vorher zeigte ihm Gott, z. B. auf seinem Wege Esau entgegen, Seine Engelheere, um ihm damit eine Versicherung zu geben, daß er sich nicht fürchten müsse und daß derer, die bei ihm sind, mehr sind denn derer, die bei Esau sind. Jakob sah die Engelheere und rief sogar aus: „Dies ist das Heerlager Gottes. Und er nannte den Namen dieses Ortes Mahanajim.“ Ist das nicht ein treffliches Bild von uns? Man sieht die Dinge, macht andere noch darauf aufmerksam, gibt der Sache sogar einen Namen; aber im Grunde hat man sie doch nicht und weiß nichts damit anzufangen, wie Jakob mit den Engelheeren. Die Beweise Seiner Gegenwart und Seiner Freundlichkeit gehen nutzlos an uns vorüber, solange man durch eigene Kraft in der Blindheit gehalten wird. Nur schwache Leute sind imstande, Gott in Seiner Kraft zu fassen. Der Hohe und Erhabene wohnt bei denen, die zerschlagenen und demütigen Geistes sind. Warum? Weil Gott da Raum hat und etwas tun kann. 4. Was ich Negatives über den Weg zur vierten Station zu sagen habe, ist schnell gesagt. Es darf auch hier kein Stehenbleiben geben, wiewohl nirgends die Versuchung zum Stehenbleiben größer sein wird als gerade hier. Denn der Feind ist schnell bereit zu sagen: Du hast so viel erbetet und hast dich müde gearbeitet; nun ist’s genug! Gerade wenn dies der Fall ist, haben wir umso nötiger, wie die Jünger in Mark. 6,30 und 31, „besonders an einen stillen Ort zu gehen, um ein wenig zu ruhen“, d. h. zu uns selbst zu kommen. Tiefer eindringen, muß auch hier unsere Losung bleiben. Ich führe hier an, was Simpson über dieses „tiefer eindringen“ sagt: Tieferer Friede und göttliche Freude. In den mächtigen Tiefen des Ozeans machen die Winde, die über die Oberfläche dahintoben, keinen Eindruck. Dort herrscht eine ununterbrochene und vollkommene Ruhe. So mag auch die Seele, die sich in Gott vertieft hat, weniger von der aufbrausenden Fröhlichkeit leicht erregbarer Naturen haben; aber sie ruht in dem Frieden Gottes, der allen Verstand übersteigt, und ihre Freude ist nicht die irdische Freude, die aus den Verhältnissen oder zusagenden Umgebungen entspringt, sondern eine wahre göttliche Freude, und diese wird oft am tiefsten und vollsten empfunden, wenn ringsumher alles öde ist wie eine Wüste und dunkel wie die Mitternacht. Der Gnadenstrom 85 Tieferer Glaube. Wie wir uns tiefer in Gott versenken, so hält sich unser Glaube nicht so sehr an die offenbaren Anzeichen der Erhörung unserer Gebete, sondern ruht mehr auf dem Unsichtbaren. Er nimmt Gott bei Seinem Wort ohne Zeichen oder Gefühl und lernt wie Abraham gerade dann am festesten glauben, wenn alles der Verheißung zu widersprechen scheint. Er versenkt sich in die Tiefen der geheimnisvollen Führungen Gottes und vertraut, wo er nicht ergründen kann, der Treue und Liebe Gottes, in der er ruht. Tiefere Liebe. Dann lernen wir die Liebe, die langmütig und freundlich ist, die das Lieblose, das Unfreundliche mit Liebe umschließen kann, die im Glauben liebt, wo es im Schauen nicht möglich; denn diese völlige Liebe glaubt alles, hofft alles, duldet alles und „hört nimmer auf“. Tiefere Geduld. Denn wenn wir in die Tiefen hinabsteigen, so kann die Geduld ihr vollkommenes Werk in uns haben und die krönende Tugend des gereiften Christenlebens werden, – Geduld Gott gegenüber, inmitten dunkler Führungen, Geduld gegen unsere Mitmenschen, auch in Beleidigungen und Verfolgung, Geduld, die freudig leiden und sich selbst des Leidens rühmen kann, weil sie über und in allem die Liebe Gottes und Seinen Endzweck, unsere Vollendung, sieht. – Tiefere Kraft. Wie wir uns tiefer in das göttliche Leben einsenken, werden wir uns oft weniger unserer eigenen Kraft bewußt und sind zufrieden, in Seinem Wirken zu ruhen, auch wenn wir weder Kraft fühlen noch Frucht sehen. Gottes Macht zeigt sich oft in dem Verbergen Seiner Kraft, und Seine mächtigsten Werkzeuge sind mit dem Schatten Seiner Hände bedeckt. Wir lernen im Glauben auf Seine Gotteskraft rechnen und halten uns nur für Werkzeuge Seiner Hand, willig, ebenso wohl durch Schweigen als durch Reden oder tätigen Dienst von Ihm gebraucht zu werden. Tiefere Arbeit. In dieser tieferen Arbeit in Gott sind wir nicht mehr mit uns selbst beschäftigt; aber unser Wirken mag wohl weniger offenbar werden als in unserer früheren Erfahrung. Die Arbeiter einer großen, mächtigen Brücke tun die schwerste Arbeit davon im Verborgenen. Tief unter dem Wasser werden die großen Grundsteine gelegt; aber sie sind auch das Fundament, das den ganzen Bau trägt. Dies war die Arbeit, die Moses tat, und Josua erntete die Früchte der86 Georg Steinberger selben. Der Prophet Jesaja tat solche Arbeit; aber zu seiner Zeit wurde er von niemandem darin verstanden. Es war die Arbeit des Herrn selbst, als Er auf Erden war, und bei Seinem Fortgang war nur in einer kleinen Schar ihr Resultat sichtbar; aber die folgenden Jahrhunderte haben ihre herrliche Frucht offenbart. Tieferes Gebet. Denn wenn wir inniger mit dem Heiligen Geist vereint sind, so betet Er in uns, und Sein Gebet kommt aus der Tiefe, nicht mit lautem Ruf, sondern mit Seufzen, das nicht in Worten ausgesprochen werden kann. Unser Gebet wird manchmal auch zu einem schweigenden Versenken in Gott, einem Einssein, einer Anbetung, die zu heilig und zu tief ist, sie in Worte zu kleiden. Tieferes Leiden. In dem Maße, wie wir dem Herrn näher kommen, werden wir, gleich Ihm selbst, empfindsamer für die Sünde um uns her, für den giftigen Atem des bösen Feindes, für die Leiden der Welt, die Gefahr unsterblicher Seelen, für die Leiden des Herrn selbst, die Er erduldete zur Errettung einer Welt, die Ihn haßte. Von unseren eigenen Wegen erlöst, können wir jetzt in die Gemeinschaft Seiner Leiden eintreten. Tieferer Blick. Wir sehen jetzt mit einer göttlichen Klarheit in das Wort Gottes, in den Plan Gottes zur Erlösung Seiner Menschheit und in die herrliche Zukunft der Erscheinung Jesu Christi hinein. Wenn man sich in der Tiefe eines dunklen Abgrunds oder eines Brunnens befindet, so kann man selbst am hellen Tage von dort aus Sterne sehen. Wenn wir tief genug in Gott eingedrungen sind, können wir die Himmel schauen. Dann erglänzt uns das Wort Gottes in einem himmlischen Lichte, dann verstehen wir Seine Stimme in der Schrift und erfassen Seinen Gedanken für unsere Zeiten und Seinen Plan für die Arbeit und für die Welt. Soli Deo Gloria! Jeden Faden, den ich drehe, jeden Fußtritt, den ich gehe, jede Scholle, die ich grabe, jede Arbeit, die ich habe, alles meinem Gott zu Ehren, hier und dort Sein Lob zu mehren. Soli Deo gloria! Der Gnadenstrom 87 Alle Lasten, die ich trage, alle Worte, die ich sage, alle Werke, die ich tue, alle Stunden, da ich ruhe, alles meinem Gott zu Ehren, hier und dort Sein Lob zu mehren. Soli Deo gloria! Jedes Tröpflein Blut im Herzen, jede heiße Glut der Schmerzen, jede lichte Freudenstunde, jede bitt’re Leidenswunde, alles meinem Gott zu Ehren, hier und dort Sein Lob zu mehren. Soli Deo gloria! Jede Speis’, die ich genieße, wenn ich andre freundlich grüße, wenn ich nur ein Blümlein pflücke, mich um einen Strohhalm bücke, alles meinem Gott zu Ehren, hier und dort Sein Lob zu mehren. Soli Deo gloria! Alles, vom Geringsten, Kleinsten, bis zum Höchsten, Größten, Reinsten, mag’s die ganze Welt erbauen, mag’s nur still ein Engel schauen, alles meinem Gott zu Ehren, hier und dort Sein Lob zu mehren. Soli Deo gloria! Einst an meinem letzten Ende, wenn mein brechend Aug’ ich wende hin zum Kreuz den Trost genieße und dann still mein Leben schließe, alles meinem Gott zu Ehren, hier und dort Sein Lob zu mehren. Soli Deo gloria! 88 Georg Steinberger Ohne Fühlen will ich trauen! Deshalb umgürtet die Lenden eurer Gesinnung, seid nüchtern und hofft völlig auf die Gnade, die euch gebracht wird bei der Offenbarung Jesu Christi. 1.Petrus 1,13 Ist der erste Schritt zur Ruhe in Gott ein gutes Gewissen, so ist der zweite die Ordnung im Gemüts- und Seelenleben. Wir müssen unterscheiden lernen zwischen Gefühl und Glauben. Seine Stellung zu Gott, die Hoffnung des ewigen Lebens von seinen Gefühlen abhängig zu machen, ist sehr töricht und bringt der Seele viele Qualen. Und doch gibt es unzählige, die dieses tun. Haben sie ein freudiges Gefühl, tiefe innere Empfindungen, heilige Entschlüsse, so rühmen sie mit David: „Mein Berg steht fest, ewig werde ich nicht wanken!“ Werden aber diese beseligenden Gefühle durch niederdrückende verdrängt – was ja immer der Fall sein wird bei diesen Leuten –, so sitzen sie da und trauern wie Leute, denen mitten am Tage die Sonne untergegangen ist. Sie machen sich das Christentum sehr schwer, weil sie nur zu leben glauben, wenn die Gefühle befriedigt sind. Sie sind in den Versammlungen nur dann gesegnet, wenn sie durch ein Wort gerührt oder gar zu Tränen gebracht werden. Solche Christen bereiten sich selbst viele Qualen, und bevor sie aus diesem Nebelgeist des Gefühlslebens herausgebracht worden sind, ist es ganz unmöglich, daß sie zur Ruhe in Gott gebracht werden, daß sie einen tieferen Blick in das Geheimnis des Evangeliums und damit auch einen sicheren Boden unter ihre Füße bekommen können. Solange man auf Gefühle achtet und auf Gefühle traut, kann man nicht zur Ruhe kommen. Man ist einem Schiffe gleich, das von einer Welle hoch in die Höhe und von einer anderen ebenso tief wieder hinuntergetragen wird und von einer dritten sogar aus dem Hafen verschlagen werden kann. In der Seele sind beständig Veränderungen. Sie ist gleich dem Firmament, das alle Stunden eine andere Gestalt haben kann, einmal helle Wolken, dann wieder dunkle. Sie ist wie ein lebendiger Spiegel, in dem tausenderlei Gegenstände der 89 Außenwelt aufgenommen und verarbeitet werden. Jede Disharmonie in dem Gemüt eines in unserer Umgebung weilenden Menschen wirkt schon drückend und beengend auf unsere Seele, von dem drückenden Einfluß der Finsternismächte gar nicht zu reden. Es sagt jemand: „Mehr als viele ahnen, sind es oft körperliche Ursachen, die unser Gemüts- oder Seelenleben erregen oder beunruhigen. Wir sind eben noch keine reinen Geister, sondern arme Menschen von Fleisch und Blut, die auch von äußeren, leiblichen, oft scheinbar ganz geringfügigen Dingen abhängen. Ein überheiztes Zimmer, Mangel an Bewegung, ein sonnenloser Tag, körperliche Abspannung und anderes mehr, wie sehr wirkt das alles auf unsere Stimmung ein! Es ist freilich recht demütigend für uns, so von äußeren Dingen abhängig zu sein; doch ist dies eine leidige Tatsache. Gewiß, viele Seufzer und Tränen, Druck und Not und Beängstigungen sind bloß Folgen von Unordnungen im Leibesleben; sie rächen oft irgendeine Verletzung der Gesundheitsregeln. Sie kommen und gehen, steigen und fallen mit dem Quecksilber in der Röhre. Oft wirkt Körperliches und Seelisches zusammen.“ Eine alte Christin sagte mir einmal: Müd, allein und #acht, Da hat der Teufel Macht. Einem treuen Kind Gottes, das jahrelang unter den eben beschriebenen Verhältnissen litt und beständig inAngst und Zweifel war, weil es jenen Druck auf dem Gemüt – und das ist bei Leuten mit schwachen Nerven sehr leicht der Fall – als eine Anfechtung des Teufels oder als ein Gottverlassensein ansah, sagte ich einmal: Sie haben kleine Kinder; macht es Ihnen nun Freude, den Kleinen, die anfangen zu laufen, auf den Kopf zu drücken, damit sie sich nicht von der Stelle bewegen können? Selbstverständlich nicht! war die Antwort. Ich fuhr fort: Wird Gott Ihnen, seinem Kind, tun, was Sie nie Ihren Kindern tun würden? Nein, entgegnete sie schnell. Gut, sagte ich, Gott tut es nicht, und der Teufel darf es auch nicht tun; denn wir können sicher sein, daß sich jede Anfechtung von Seiten des Teufels entweder auf ein Recht in uns oder auf eine Zulassung Gottes gründen muß. Sie malen durch diese Dinge den Teufel an die Wand, und wenn man ihn an die Wand malt, so kommt er. Sie öffnen dadurch der Anfechtung Tür und Tor. – Der Herr führte sie aus diesem Nebelgebiet heraus, und sie ist heute ein fröhliches Kind Gottes. 90 Georg Steinberger In 3.Mose 17,14 lesen wir: „Die Seele des Menschen liegt in seinem Blut“, ist also mit dem Leibesleben im engsten Zusammenhang. Ist der Leib müde, schwach und krank, so leidet darunter auch die Seele, wie ja auch Schwermut und Geisteskrankheit oft von zu schlechter Ernährung des Leibes herrühren. Die Schrift sagt darum nicht vergebens: Pflege des Leibes; denn wie ein gutes Haus ein guter Schutz ist gegen allerlei Witterungseinflüsse, so ist ein gesunder Leib ein wesentlicher Schutz gegen die uns umgebenden Finsterniskräfte. Der Gerechte lebt aus Glauben, nicht aus Gefühlen. Der Glaube hat nichts mit Gefühlen zu tun. Sie sind der Zucker für die Kindermilch, der Stab für den Kranken, der noch nicht allein gehen kann. Gefühle sind nur der Vorhof, der Glaube das Allerheiligste. Es hat einer gesagt: „Gefühle können niemals göttliche Resultate erzielen. Sie gehören der Natur und der Erde an, während der Glaube Gott und dem Himmel angehört; sie sind mit sich selbst beschäftigt, während der Glaube mit Christus beschäftigt ist; sie schauen einwärts und niederwärts, während der Glaube auswärts und aufwärts schaut; sie lassen uns in Dunkelheit und Zweifel, während der Glaube zum Licht und zum Frieden leitet.“ Es sagte mir einmal jemand: Ich habe keinen Funken Gefühl in mir. Ich sagte: Das ist auch nicht nötig, daß Sie fühlen; denn es steht nirgends geschrieben: Wer es fühlt, sondern: Wer glaubt. Sie sagte weiter: Wenn ich aber gar nichts fühle, kann ich dann trotzdem glauben? Ich sagte: Glauben Sie, daß Sie als kleines Kind getauft worden sind? Ja! Fühlen Sie das? Nein! Ja, warum glauben Sie es denn? Das weiß ich eben. Woher wissen Sie es aber? Sie waren ja noch klein. Ich weiß es von meiner Mutter, und dann haben wir doch auch einen Taufschein. So, sagte ich, diese Dinge glauben Sie, ohne zu fühlen, und hat nicht auch in den Dingen Ihrer Seele der Vater dort oben gesprochen und sein Wort sogar mit dem Eide versiegelt? Gott sagt: Glaube es! Zuerst müssen wir glauben, und das Resultat des Glaubens wird das Fühlen, oder besser, Gewißheit und Erfahrung sein. Vier und drei sind sieben. Fühlst du das? Daß du es nicht fühlst, wird es nicht acht machen, sondern es wird sieben bleiben alle Tage deines Lebens. Man hört oft den Ausdruck: Ich bin vor soundso vielen Jahren zum Glauben gekommen. Und das verstehen die Leute oft so, als ob es nun genug sei, daß sie es vor Jahren einmal gewagt oder sich angeOhne Fühlen will ich trauen! 91 strengt und geglaubt haben. Ach nein! Zum Glauben kommen ist ungefähr das gleiche, was für das neugeborene Kind der erste Atemzug ist. Weil es den ersten Atemzug getan hat, muß es den zweiten und dritten tun und atmen bis an sein Ende. Weil du einmal geglaubt hast, mußt du immer wieder glauben, leben aus Glauben, wie geschrieben steht Römer 1,17. Darum redet die Schrift von einem Kampf des Glaubens. Der Teufel geht vor allen Dingen darauf aus, uns von dem Boden des Glaubens herunterzubringen; denn dann sündigen wir ganz von selbst. Weil wir von Natur träge sind zum Kampfe, so möchten wir lieber fühlen und empfinden als glauben. Ohne daß ich es wußte, durfte ich einmal jemand in diesen Dingen einen großen Dienst tun. Ich schrieb wie zum Zeitvertreib auf ein Stück Papier die Worte: Die Kraft des Blutes ist nicht eine spürbare Kraft in uns, sondern eine Kraft den Sünden unserer Vergangenheit gegenüber (Kol. 2,13), eine Kraft der Versuchung zur Sünde gegenüber (1.Kor. 6,19-20), eine Kraft den Anfechtungen des Teufels gegenüber (Offb.12,11) und auch eine Kraft Gott gegenüber, vermöge welcher wir Gott nahegebracht worden sind (Eph. 2,13) und vermöge welcher wir uns Gott nahen dürfen (Hebr.10,22) und Gemeinschaft mit ihm haben können (1.Joh.1,6.7). Wie zufällig bekam jenes Stück Papier jemand in die Hand, der sich unter der Blutskraft ein ganz besonderes Gefühl vorstellte, und weil das nicht vorhanden war, sehr traurig darüber war. Die Kraft des Blutes ist eine Kraft für den Glauben, nicht für das Gefühl. Der Glaube hat es mit göttlichen Tatsachen zu tun, die außer uns in Gott ihren Ursprung haben. Der Gläubige weiß auf die Bürgschaft des Wortes hin, ungeachtet, was seine Gefühle sein mögen, daß er selig ist (Apg. 16,31), daß er Vergebung der Sünden (Eph. 4,32) und das ewige Leben hat (1.Joh. 5,13), und daß Gottes Macht ihn bewahrt zur Seligkeit (1.Petr. 1,5). Ohne Zweifel wird der Glaube Gefühle und Empfindungen hervorrufen; aber das sind dann Wirkungen des Glaubens und dürfen nimmer mit dem Glauben selber verwechselt werden. Wir werden nicht ohne Gefühle sein, auch sie haben ihr Recht an ihrem Platz; aber wir legen absolut gar keinen Wert darauf, noch viel weniger suchen wir sie. Haben wir Gefühle, so ist es gut, haben wir keine, so ist es auch gut. Wir wissen, daß das Gefühlsleben das Kind Gottes fort 92 Georg Steinberger und fort in einem niederen Zustand hält, nahe bei sich, nahe dem Zweifel, nahe dem Unglauben, nahe dem Fleische, nahe der Sünde. Erstens lassen uns die Gefühle zu keiner Gewißheit unseres Gnadenstandes kommen; denn sie sind das gerade Gegenteil von etwas Gewissem. Ich weiß von einer aufrichtigen Christin, die sich viele innere Kämpfe und Nöte bereitete; sie suchte zwölf Jahre lang das Zeugnis des Geistes im Gefühl, bis man ihr sagte, daß es nicht ein Gefühl, sondern eine Überzeugung, ein inneres Wissen sei. Auf ihrem Sterbebett rief sie noch aus, nachdem sie das Zeugnis des Geistes in ihrem Geist gefunden hatte: Sagt’s doch allen, daß das Zeugnis des Geistes nicht Gefühl sei! Zweitens lassen uns die Gefühle zu keinem dauernden Frieden kommen. Denn solange wir unseren Frieden in unseren Gefühlen suchen, können wir ihn jeden Augenblick verlieren, weil unsere Gefühle sich jeden Augenblick ändern können. Der Grund unseres Friedens ist das geschlachtete Lamm Gottes. Den hat uns Gott gegeben (Jes. 53,3), und es ist Sünde, uns einen anderen zu suchen. Den Grund unserer Annahme bei Gott in uns selber suchen zu wollen, wäre ebenso töricht oder noch törichter, als wenn ein Schiff, das auf dem unruhigen Meer hin und her geworfen wird, seinen Anker statt auf den Meeresgrund oder an den Meeresstrand hinunter in den Schiffsraum legen würde. Drittens lassen uns die Gefühle zu keinem Fortschritt im Gnadenstand gelangen. Denn solange die Frage über unsere Annahme bei Gott nicht ganz und vollständig gelöst ist, so lange werden wir nicht über den Anfang christlichen Lebens hinauskommen. Darum ermahnt uns der Apostel Petrus so ernstlich: „Umgürtet die Lenden eures Gemüts, seid nüchtern und setzt eure Hoffnung ganz auf die Gnade, die euch angeboten wird durch die Offenbarung Jesu Christi“ (1.Petr. 1,13). Der Grund, worauf wir unsere Hoffnung setzen, ist nicht unser schwankendes Gemütsleben, sondern die in Christus geoffenbarte und uns von Gott angebotene Gnade. Merke, die Gnade ist eine von Gott angebotene Gnade, nicht eine Gnade, die man sich erbetet oder erarbeitet oder erglaubt. Diese angebotene Gnade ist der Anker für unsere Seele, der unser Glaubensschifflein so fest zu halten vermag, daß auch der mächtigste Sturm es nicht aus dem Hafen des Friedens schlagen kann. Ohne Fühlen will ich trauen 93 Zu dem eben Besprochenen gehört auch die Vermischung von Gefühlsleben und Geistesleben, oder mit einem bekannten Ausdruck: Die Vermischung von seelischem Leben und geistlichem Leben. Was ist seelisches Leben? Es ist auch ein krankhaftes Gefühlsleben, aber hier nicht in Bezug auf die Gewißheit der Vergebung der Sünden und der Hoffnung des ewigen Lebens, sondern in Bezug auf die Erbauung, die Andacht und das Wachstum des inneren Menschen. Was ein seelischer Mensch ist, sagt uns am besten der Volksmund: Heute himmelhoch jauchzend – morgen zum Tode betrübt! Der seelische Mensch ist ein armer Mensch; denn er ist nur gesegnet, wenn er allerlei rührende Gefühle und Empfindungen hatte. Und weil der Geist Gottes nicht den seelischen, sondern den geistlichen Menschen nährt, so geht er sehr oft leer aus. Er ist gleich dem Hungrigen, der träumt, er esse, wenn er aber aufwacht, so ist seine Seele noch leer, und wie ein Durstiger, der träumt, er trinke, wenn er aber aufwacht, so ist er matt und durstig (Jes. 29,8). Da ist dann Niedergeschlagenheit und innere Leere die natürliche Folge solcher Experimente. Seelisches Leben schraubt in die Höhe, aber nur, um ebenso tief wieder hinunterzusinken. Täusche dich nicht, Wonnegefühle sind nicht immer vom Geiste Gottes; auch ein unbekehrter Mensch hat solche. Wäre der nicht ein Tor, der alles Gelbe für Gold hielte? Stroh ist auch gelb und glänzt sehr schön; aber es ist doch nur ein Feuerbrand! Der Unterschied zwischen seelischem Leben und geistlichem Leben ist ungefähr derselbe wie zwischen Stroh und Gold. Gold bewährt sich im Feuer; Stroh verbrennt, und es bleibt nichts als ein Häuflein Asche. Geht es nicht ähnlich dem seelischen Christentum? Was bleibt in der Stunde der Feuerproben? Ach, nur ein Häuflein Asche! Der seelische Mensch ist untüchtig, tieferes Licht und Leben aus Gott zu empfangen. Gefühle trüben wie angelaufene Fenster den Blick und verhärten das Herz gegen treuen Gehorsam. Man bleibt bei den Gefühlen stehen. Die Schrift sagt: Der seelische Mensch vernimmt nichts von dem, was des Geistes Gottes ist. Wie sehr sollen wir darum danach verlangen, daß uns der Geist Gottes aus diesem Nebelgebiet herausführt. Abraham machte ein Freudenfest, da sein Sohn Isaak entwöhnt war. David dichtete ein „Lied im höhern Chor“, als er von seiner Seele sagen konnte: „Ich habe sie gesetzt und ge94 Georg Steinberger Ohne Fühlen will ich trauen stillt; sie ist mir gleich einem entwöhnten Kinde bei seiner Mutter“ (Ps. 131,2). Viele halten den Tag ihrer Entwöhnung für den Tag des Todes ihres inneren Lebens, weil sie nicht wissen, daß sie Gott aus den Anfängen christlichen Lebens in die Vollkommenheit führen will. Sie sitzen wie Hagar und weinen und wünschen zu sterben, weil das Wasser im Schlauch ausgegangen ist, bis Gott ihnen einen Engel sendet, der ihnen die Augen auftut und ihnen den Wasserbrunnen zeigt, der in ihrer Nähe quillt. Kürzlich fragte mich jemand: Wie kann ich das Glück und die Seligkeit wiederfinden, die ich in dem ersten halben Jahr nach meiner Bekehrung hatte? Schon lange suche ich danach und kann es nicht mehr finden. Ich fragte: Haben Sie es durch einen Sündenfall verloren? Nein! ich habe es verloren; ich weiß nicht wie. Ich sagte: Da fragt es sich, ob Sie das, was Sie verloren haben, überhaupt wiederfinden sollen. Ich merke, daß Sie ein Gemütsmensch sind, und was Sie verloren haben, war nicht Glück und Seligkeit, denn das hätten Sie wohl schon längst wiedergefunden; es waren auf alle Fälle nur Ihre seligen Gefühle, in denen Sie schwelgten. Gott will Sie weiterführen und an die Stelle Ihrer Gefühle seinen Geist geben, der Sie aus dem Nebelgeist Ihres Gefühlslebens herausführt und auf den Weg des Glaubens bringt. Da geht man dann in seinem Glück immer fort und nie zurück, man ist auf dem Glaubenspfade und nimmt immer Gnad’ um Gnade – man lebt nicht vom Erleben. „Da ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind und hatte kindische Anschläge; da ich aber ein Mann ward, tat ich ab, was kindisch war“, sagt Paulus. Was wäre es, wenn wir allezeit Kinder blieben, immer hängend an der Brust himmlischer Tröstungen? Die ersten Wonnegefühle waren gut, um uns anzuziehen, um uns von dem groben und weltlichen Vergnügen loszumachen. Später tritt an ihre Stelle der Heilige Geist, der uns zu dem verborgenen Leben mit Christus in Gott leitet, wo wir dann sprechen lernen: „Alle meine Quellen sind in dir!“ und wo wir unserem Gott vertrauen lernen auch in Dunkelheiten. Gibt es auch für das Kind Gottes dunkle Stunden und dunkle Wege? Ja! Nicht nur allen Knechten Gottes in der Bibel, sondern auch den Vollkommenen unter den Menschenkindern sind diese Stunden nicht erspart geblieben. Es ist etwas anderes, im Dunkel auf ihn zu vertrauen, als im Sonnenschein ihm zu folgen. Aber der Herr 95 führt uns solche Wege, damit wir ihm vertrauen lernen, ihm allein, damit wir lernen wie Mose, uns an den Unsichtbaren zu halten, als sähen wir ihn, und sprechen lernen mit Asaph: „Dennoch bleibe ich stets bei dir!“ Wir sind gleich der Braut im Hohelied, die den Bräutigam einladet: „Komm, mein Freund, laß uns auf das Feld hinausgehen und auf den Dörfern bleiben ... zu den Weinbergen ... da will ich dir meine Liebe geben“ (Hohelied 7,12-13). Warum geht man von der Stadt auf die Dörfer? Um Vergnügen zu haben! Warum geht man in den Garten? Um Genuß zu haben! Sie wollte ihm ihre Liebe geben, wenn er sie zu Vergnügen und Genuß führen würde. Machen wir es nicht auch so? Aber der Bräutigam ging nicht mit. Statt daß er sie in ihren Garten begleitete, führte er sie in die Wüste, wie wir lesen in 8,5: „Wer ist die, die heraufsteigt von der Wüste und lehnt sich auf ihren Freund?“ In der Wüste hat sie gelernt, sich auf ihn zu lehnen, sich von ihm tragen zu lassen. Da lernte sie ihn fürchten, auf seine Stimme hören, auf ihn vertrauen und auf ihn sich stützen, auch in der Finsternis und in der Einöde. Das heißt seine Probe machen, ob man fest im Glauben steht, Wenn man in den schwersten Sachen wie ein Kind dem Herrn nachgeht. 96 Georg Steinberger Ein Überwinder von innen heraus! „Ein jeglicher aber wird versucht, wenn er von seiner eigenen Lust fortgezogen und gelockt wird. Danach, wenn die Lust empfangen hat, gebiert sie die Sünde“. Jakobus 1,14-15 „Wie kann ich Sieg über die Sünde erlangen, die bei mir immer wieder zum Vorschein kommt?“, ist die oft gehörte Frage. Hier soll eine Ursache der Niederlagen gezeigt werden und auch ein Mittel, sie aus dem Weg zu räumen. Lust von innen und Versuchung von außen gebiert die Sünde, sagt uns hier Jakobus. Wir können sicher sein, daß wir in den seltensten Fällen von einer plötzlichen Versuchung von außen zu Fall gebracht werden. Gewöhnlich haben wir die Sünde, die nun ganz unerwartet in Erscheinung tritt, schon vor Wochen, Monaten, auch Jahren in den Gedanken und Empfindungen begangen. Die Sünde war schon im Innern begangen und wartete nur auf den Augenblick, wo sie offenbar werden konnte. Darum sagt Jesus in der Bergpredigt: „Wer eine Frau ansieht, ihrer zu begehren, der hat schon die Ehe gebrochen mit ihr in seinem Herzen,“ d.h. im Herzen ist die Tat schon geschehen. David führt seinen Fall mit Bathseba nicht auf die plötzliche Versuchung zurück, sondern er sagt uns in Psalm 51, wo er seinen Fall beschreibt und bereut: „Du verlangst Wahrheit im Innern.“ Damit gibt er die Ursache seines Falles an. Er sagt damit, daß nicht die plötzliche Versuchung, sondern die Untreue im Innern ihn zu Fall gebracht habe. Darum seine weitere Bitte: „Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz!“ Jede Sünde hat eine Vorgeschichte im Innern, manche eine jahrelange, manche eine wochenlange, manche nur eine solche von einem Augenblick. Aber die Entstehung einer Sünde geschieht im Innern. Jakobus sagt: „Wenn die Lust empfangen hat, gebiert sie die Sünde.“ Zwischen empfangen und geboren werden liegt immer ein Zeitraum. Du redest hart gegen deinen Bruder, und du entschuldigst dich und sagst, du habest dich durch diese oder jene Veranlassung hinreißen lassen. O nein! Du warst vorher in deinem inneren Urteil, in dei97 nen inneren Empfindungen diesem Bruder gegenüber nicht treu. Deine lieblosen Äußerungen waren nichts anderes als die Frucht deiner lieblosen Gesinnung. Du kommst in schwierige Verhältnisse und handelst falsch und entschuldigst dich dann, indem du sagst: Der schwierige Augenblick veranlaßte mich zu dieser Tat, sonst ist dies nicht mein Charakter. Nein! Wir sind in Wahrheit gerade das, was wir in schwierigen Augenblicken sind. Nirgends so wie gerade hier wird unser wahrer Charakter offenbar. Wir haben hierfür einen treffenden Beweis an dem Streit zwischen den Hirten Lots und den Hirten Abrahams (1.Mose 13). Der Streit offenbarte, was ein jeder von diesen beiden Männern war. Abraham gab er Gelegenheit seinen Glauben vor Gott und den Menschen kundzutun, während er andererseits die Weltlichkeit zur Schau stellte, die in den geheimen Kammern des Herzens Lots verborgen war. Der Streit erzeugte in dem Herzen Lots ebensowenig die Weltlichkeit als in dem Herzen Abrahams den Glauben, sondern machte nur offenbar, was in der Tat in den Herzen beider vorhanden war. Lot trieb der Streit nach Sodom. So ist auch der Fall Achans in Josua 7 nach dieser Seite hin sehr lehrreich für uns. Als Josua ihn fragte: „Warum hast du das getan?“ antwortete Achan: „Ich sah, es gelüstete mich, und ich nahm es.“ Zwei Dinge gingen dem Diebstahl voraus. „Sehen“ und „gelüsten lassen.“ Achan wurde von seiner eigenen Lust gelockt und fortgezogen zur Sünde. Er unterlag der Sünde, weil er die Lust in seinem Herzen hegte. Die Lawine, die im Tal großes Unglück und Verwüstung anrichtet, hat oft ihren Anfang genommen mit dem bißchen Schnee, den ein Vogel mit seinen Klauen losgerissen hat. Schwere Niederlagen haben in der Regel ihren Anfang genommen mit einem unerlaubten Blick, mit der Duldung eines unerlaubten Gedankens einer Empfindung. Gott hat Lust zur Wahrheit im Innern. Wahrheit im Innern ist mehr, als keine unwahren Dinge reden, unwahre Handlungen begehen; es ist ein inneres Stehen und Wandeln vor Ihm, dem Heiligen und Reinen. Gott wirkt immer von innen nach außen, ob in der Natur oder in der Erziehung Seiner Kinder – wir wirken in der Regel von außen nach innen. Unser Gott tut immer ganze Arbeit. Er baut nicht vom 98 Georg Steinberger Giebel aus, sondern legt Grund, der für und für bleibt. Er steigt hinab bis in die tiefsten Tiefen unseres Wesens. Er dringt mit Seinem Licht hinein in die Grundgesinnung, in das eigentliche Wesen unseres Herzens, bis an den Ort, wo die Gedanken entstehen und die Empfindungen geboren werden, und macht uns nicht nur unsere ungöttlichen Werke, Worte und Gedanken zur Sünde, sondern auch die verborgenen Empfindungen, die sich noch gar nicht zu Gedanken formuliert haben. Als Hiskia den Tempel reinigen ließ, sprach er zu den Leviten: „Fangt inwendig an!“ (2.Chronik 29). Wenn Gott uns, Seinen Tempel, wieder herstellt, fängt Er auch inwendig an. Er öffnet wie Hiskia zuerst die Türen und gibt Befehl, allen Unflat aus dem Heiligtum zu tun, die Lampe anzuzünden, das Räucherwerk herzustellen, das Brandopfer darzubringen, den Schaubrottisch zu belegen und alle Geräte des Heiligtums, die besudelt sind, zu heiligen und sie vor den Altar Gottes zu bringen. Und wenn dann dies alles geschehen ist, macht sich der König früh auf, um in Seinem Hause einzuziehen. „Der Tempel Gottes, der seid ihr“, sagt Paulus. Aber bevor Gott in Seinen Tempel einzieht, heiligt Er ihn, wie Paulus weiter sagt: „Der Gott des Friedens heilige euch durch und durch, daß euer Geist ganz samt der Seele und dem Leib unsträflich behalten werde.“ Gott fängt allezeit Sein Werk im Innern an. Er legt den Sauerteig inwendig hinein, bis die drei Scheffel Mehl, d.h. Geist und Seele und Leib, ganz durchdrungen sind. O, wie verkehrt sind wir auch in diesem Stück! Wir sind den Kindern gleich, die eine schöne Blume abpflücken, sie in ein Häuflein Sand stecken, sie mit viel Wasser begießen und meinen: Nun muß sie wachsen. Wir wirken von außen nach innen! Wir versuchen auch außen als Kinder des Lichts zu wandeln und dulden in unserem Innern die Finsternis. Wir trauern über den verdorbenen Weinberg und lassen doch die kleinen Füchse leben. Statt daß unser Christenwandel eine Frucht der inneren Verbindung mit Christus sein sollte, ist er sehr oft nur eine Arbeit, die aus „Zusammennehmen“ und „Inachtnehmen“ besteht. Aber von Arbeit wird man müde, vom Fruchtbringen nicht. Ich kann nach außen nicht in der Wahrheit wandeln, wenn ich nicht Lust zur Wahrheit habe, die im Verborgenen liegt. Ich kann nicht treu, aufrichtig, freundlich, liebevoll, keusch und rein sein, Ein Überwinder von innen heraus! 99 wenn ich es nicht im Innersten meines Wesens bin. Ich kann auf diesen Gebieten niemals ein Überwinder werden, wenn ich es nicht von innen heraus werde. Bei einer solchen entschiedenen Wendung bleiben wir dann nicht nur bewahrt vor vielen Niederlagen, sondern der Kampf verliert auch an Bitterkeit. Denn unser ganzer innerer Mensch ist ein für allemal auf die Seite Gottes getreten. Nicht der Kampf mit der Sünde macht die Bitterkeit des Kampfes aus, sondern der Kampf mit der geweckten, genährten und gepflegten Lust. Die Lust lockt und zieht zur Sünde, hat einen Zug zur Sünde, sagt uns Jakobus. Man hat gesagt, der Herr Jesus habe sich darin geirrt, daß Er Sein öffentliches Auftreten mit der Bergpredigt eingeleitet habe; später habe Er gemerkt, daß diese Predigtweise dem Volke nicht entsprechend sei, und habe darum dann meistens in Gleichnissen gesprochen. Wir können das aber nicht annehmen, sondern glauben vielmehr, daß Er uns Menschen von vornherein zeigen wollte, daß Er nicht wie wir von außen nach innen wirke, sondern von innen nach außen. „Selig sind, die reines Herzens sind“ ist das Thema der Bergpredigt. Und wenn uns der Geist Gottes etwas von dem inneren, verborgenen Leben zeigen kann, fangen wir auch an, die Bergpredigt zu verstehen und sehr dankbar dafür zu sein. Denn von Natur ist unser Herz eine Bilderkammer, wie sie in Hesekiel 8 beschrieben ist, voll tierischer Leidenschaften, voll Gräuel und allerlei Götzen. Und die Bergpredigt ist der Hesekiel, dem Gott den Auftrag gegeben hat, ein Loch durch die Wand dieser geheimen Kammer zu graben, damit der schändliche Bilderdienst in Phantasie, Gemüt und Herz ans Licht gebracht und gestraft werde. Denn Licht und Gericht gehen immer Hand in Hand. David sagt in Psalm 27: „Der Herr ist mein Licht und mein Heil und meines Lebens Kraft.“ Wenn wir dem Herrn erlauben, unser Licht zu sein, wird Er auch unser Heil und unsere Kraft. Das ist die göttliche Reihenfolge. Höre auf, um Kraft zu schreien, solange der Herr nicht dein Licht sein darf! Nicht nur ein neues Herz, sondern auch ein reines Herz bedürfen wir. Nicht nur die Vergebung der Sünden, sondern auch die Reinigung von Sünden müssen wir haben. In 1.Johannes 1,9 ist zwischen Vergebung der Sünden und Reinigung von Sünden ein Unterschied gemacht. Die Vergebung der Sünden sollte zur Reinigung von Sün100 Georg Steinberger den führen, d.h. zur Reinigung vom Sündigen. Wenn dies nicht der Fall ist, haben wir die Vergebung vergeblich empfangen, sagt Petrus (2.Petrus 1,9). Es ist Zeit, daß wir dies verstehen und uns reinigen von jedem Zusammenhang mit der Sünde, auch von dem unscheinbarsten. Denn viel mehr, als wir meinen, sind es kleine, in uns liegende, von uns gepflegte Dinge, die uns die Niederlagen bereiten. Wir denken von diesen Dingen wie die Israeliten von dem Städtchen „Ai“: „Es ist ja nur klein!“ (Josua 7). Aber gerade hier hatten sie die Niederlage. Ahab hatte vielleicht eine Ritze in seinem Panzer, aber gerade in diese Ritze traf der Pfeil des Feindes und tötete ihn (2.Chronik 18,33.34). Machen wir nicht ähnliche Erfahrungen? Wir denken: Es ist ja nur klein! Es ist ja nur eine Ritze in der Waffenrüstung! Und siehe, das „Kleine“ bringt uns die Niederlage. Statt daß Israel die Kanaaniter ausrottete, machte es sie tributpflichtig. Läßt du der Sünde noch einen Platz in dir und schreibst du ihr vor, wie weit sie gehen darf? Glaube es, sie wird eines Tages die Grenze überschreiten und dich wieder in Knechtschaft und Gefangenschaft führen wie die Kanaaniter Israel! Freilich machen diese Dinge allein nicht einen Überwinder aus uns; sie sind nur eine Seite davon – aber eine wesentliche. Denn wer den Bach austrocknen will, muß die Quelle verstopfen, und wer nicht im Feuer umkommen will, darf nicht mit Funken spielen. Alles gut! sagst du. Aber wie verstopft man die Quelle? Kann man allein mit einem guten Willen, mit Entschlossenheit und Energie dies zustande bringen? Wir haben ja bereits gesehen, daß wir entschlossen sein müssen, aus allem herauszutreten, was irgendwie mit der Sünde im Zusammenhang steht; aber wir geben zu, daß wir mit dem allein nicht durchkommen. Es bedarf etwas mehr als guten Willen, es bedarf auch noch mehr, als sich der Sünde für tot „halten“, es bedarf, sagt Paulus „des Geistes des Lebens in Christus“ (Römer 8,2). Der gleiche Lebensgeist, der in Christus wirkte, wirkt auch in mir, und durch ihn habe ich die Befreiung von dem Gesetz der Sünde gefunden, die Befreiung, die ich in Römer 7 durch eigene Kraft gesucht habe. Die Sünde wirkt in unsern Gliedern wie ein Gesetz. Wie in einem Gegenstand das „Gesetz der Schwere“ wirkt, die den GegenEin Überwinder von innen heraus! 101 stand hinunterzieht auf die Erde, sobald du ihn aus deinen Händen läßt, so wirkt in uns das „Gesetz der Sünde“ und zieht uns beständig hinunter. Aber wie dieser Gegenstand vor dem Fallen bewahrt bleibt, weil ein anderes Gesetz auf ihn einwirkt als das Gesetz, das in ihm selbst ist, nämlich das „Lebensgesetz“ in deinem Arm, so bleiben auch wir bewahrt vor dem Fallen, weil ein stärkeres Gesetz als das Gesetz der Sünde auf uns wirkt, nämlich das Gesetz des Geistes des Lebens in Christus, und gleichwie dir außerordentlich viel daran gelegen ist, etwas Kostbares, das du in deinen Händen hältst, nicht fallen zu lassen, wie du besorgt bist, daß es nicht zur Erde – in den Schmutz fällt, so und noch viel mehr ist es des Heilands Verlangen, dich nicht fallen zu lassen, wenn du dich nur halten läßt. Ja, wir bleiben nicht nur bewahrt vor dem Fallen, sondern dieses Lebensgesetz zerreißt in uns auch das Sündennetz, zerstört den Sündennerv und damit auch das Sündengesetz. Denn solange wir noch von der Lust gelockt und fortgezogen werden können, haben wir noch nicht unsere Stellung als Mitgekreuzigte eingenommen, oder wir sind bereits wieder aus unserer Festung herausgetreten und haben den Wandel im Geist aufgegeben (Galater 5,16). Folg nicht der Versuchung! Die Lust, sie betrügt! Lausch’ einmal dem Locken, Bald bist du besieg